Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Nur ein Lehrer schien von der hohen Bedeutung seines Berufes ergriffen zu seyn. Er war nur eine kurze Zeit an dem Colleg beschäftigt und hatte, wie man sagte, mancherlei Schicksale erlebt. Er hatte sich lange Zeit mit der Bildung junger Männer für den Elementarunterricht beschäftigt, verlor diese Stellung durch ungerechte Beschuldigungen und erklärte interimistisch auf unserm Colleg den Tacitus. Seine Haltung war streng und ernst; alles, was er sprach, hatte die gewählteste Form. Er strebte so sehr nach rhetorischer Abrundung, daß wir Schüler in muthwilligen Stunden sein Pathos gern persiflirten. Dieß hinderte aber nicht, daß uns seine Erklärung des Tacitus mächtig anzog. Man sah, daß er die verhaltene Leidenschaft des großen Römers zu ergründen wußte; seine Erklärung war kritisch und philologisch; allein sie hatte immer nur den Zweck, das dem Sinn Angemessene und mit dem Charakter des Tacitus Uebereinstimmende hervorzuheben. Vieles verstand man nicht, weil der jugendliche Sinn noch nicht reif genug war, um die Schliche der Tyrannei und die Jrrsale der menschlichen Natur ganz zu durchschauen; allein man erhielt doch von dem, was noch dunkel blieb, schon die Ahnung seiner hohen Bedeutung. Dieser Unterricht hat gemacht, daß, wenn ich gegenwärtig mich noch mit dem Alterthum beschäftige, ich am liebsten auf Tacitus zurückkomme. Jch beklage dabei immer, daß mir besonders Demosthenes ganz und gar verleidet wurde. Diesen Redner erklärte uns eine sehr zerstreute Nur ein Lehrer schien von der hohen Bedeutung seines Berufes ergriffen zu seyn. Er war nur eine kurze Zeit an dem Colleg beschäftigt und hatte, wie man sagte, mancherlei Schicksale erlebt. Er hatte sich lange Zeit mit der Bildung junger Männer für den Elementarunterricht beschäftigt, verlor diese Stellung durch ungerechte Beschuldigungen und erklärte interimistisch auf unserm Colleg den Tacitus. Seine Haltung war streng und ernst; alles, was er sprach, hatte die gewählteste Form. Er strebte so sehr nach rhetorischer Abrundung, daß wir Schüler in muthwilligen Stunden sein Pathos gern persiflirten. Dieß hinderte aber nicht, daß uns seine Erklärung des Tacitus mächtig anzog. Man sah, daß er die verhaltene Leidenschaft des großen Römers zu ergründen wußte; seine Erklärung war kritisch und philologisch; allein sie hatte immer nur den Zweck, das dem Sinn Angemessene und mit dem Charakter des Tacitus Uebereinstimmende hervorzuheben. Vieles verstand man nicht, weil der jugendliche Sinn noch nicht reif genug war, um die Schliche der Tyrannei und die Jrrsale der menschlichen Natur ganz zu durchschauen; allein man erhielt doch von dem, was noch dunkel blieb, schon die Ahnung seiner hohen Bedeutung. Dieser Unterricht hat gemacht, daß, wenn ich gegenwärtig mich noch mit dem Alterthum beschäftige, ich am liebsten auf Tacitus zurückkomme. Jch beklage dabei immer, daß mir besonders Demosthenes ganz und gar verleidet wurde. Diesen Redner erklärte uns eine sehr zerstreute <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0392" n="364"/> Nur <hi rendition="#g">ein</hi> Lehrer schien von der hohen Bedeutung seines Berufes ergriffen zu seyn. Er war nur eine kurze Zeit an dem Colleg beschäftigt und hatte, wie man sagte, mancherlei Schicksale erlebt. Er hatte sich lange Zeit mit der Bildung junger Männer für den Elementarunterricht beschäftigt, verlor diese Stellung durch ungerechte Beschuldigungen und erklärte interimistisch auf unserm Colleg den Tacitus. Seine Haltung war streng und ernst; alles, was er sprach, hatte die gewählteste Form. Er strebte so sehr nach rhetorischer Abrundung, daß wir Schüler in muthwilligen Stunden sein Pathos gern persiflirten. Dieß hinderte aber nicht, daß uns seine Erklärung des Tacitus mächtig anzog. Man sah, daß er die verhaltene Leidenschaft des großen Römers zu ergründen wußte; seine Erklärung war kritisch und philologisch; allein sie hatte immer nur den Zweck, das dem Sinn Angemessene und mit dem Charakter des Tacitus Uebereinstimmende hervorzuheben. Vieles verstand man nicht, weil der jugendliche Sinn noch nicht reif genug war, um die Schliche der Tyrannei und die Jrrsale der menschlichen Natur ganz zu durchschauen; allein man erhielt doch von dem, was noch dunkel blieb, schon die Ahnung seiner hohen Bedeutung. Dieser Unterricht hat gemacht, daß, wenn ich gegenwärtig mich noch mit dem Alterthum beschäftige, ich am liebsten auf Tacitus zurückkomme. Jch beklage dabei immer, daß mir besonders Demosthenes ganz und gar verleidet wurde. Diesen Redner erklärte uns eine sehr zerstreute </p> </div> </body> </text> </TEI> [364/0392]
Nur ein Lehrer schien von der hohen Bedeutung seines Berufes ergriffen zu seyn. Er war nur eine kurze Zeit an dem Colleg beschäftigt und hatte, wie man sagte, mancherlei Schicksale erlebt. Er hatte sich lange Zeit mit der Bildung junger Männer für den Elementarunterricht beschäftigt, verlor diese Stellung durch ungerechte Beschuldigungen und erklärte interimistisch auf unserm Colleg den Tacitus. Seine Haltung war streng und ernst; alles, was er sprach, hatte die gewählteste Form. Er strebte so sehr nach rhetorischer Abrundung, daß wir Schüler in muthwilligen Stunden sein Pathos gern persiflirten. Dieß hinderte aber nicht, daß uns seine Erklärung des Tacitus mächtig anzog. Man sah, daß er die verhaltene Leidenschaft des großen Römers zu ergründen wußte; seine Erklärung war kritisch und philologisch; allein sie hatte immer nur den Zweck, das dem Sinn Angemessene und mit dem Charakter des Tacitus Uebereinstimmende hervorzuheben. Vieles verstand man nicht, weil der jugendliche Sinn noch nicht reif genug war, um die Schliche der Tyrannei und die Jrrsale der menschlichen Natur ganz zu durchschauen; allein man erhielt doch von dem, was noch dunkel blieb, schon die Ahnung seiner hohen Bedeutung. Dieser Unterricht hat gemacht, daß, wenn ich gegenwärtig mich noch mit dem Alterthum beschäftige, ich am liebsten auf Tacitus zurückkomme. Jch beklage dabei immer, daß mir besonders Demosthenes ganz und gar verleidet wurde. Diesen Redner erklärte uns eine sehr zerstreute
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/392 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/392>, abgerufen am 28.07.2024. |