Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.konnte und sich alle unnütze Fragen verbat; mitten im Sommer hüllte er sich in seinen Mantel ein und rief, wenn er in die Klasse trat und die Fenster geöffnet fand, mit einer ersterbenden Fistelstimme: "Sämmtliche Fenster zu!" Das Sprechen kostete ihn so viel Anstrengung, daß er sich nicht einmal die Mühe gab, die Zeitwörter, die er doch brauchte, um sich verständlich zu machen, zu flektiren. Er gebrauchte zwar nicht den historischen Jnfinitiv der Alten, der in Beschreibung von Schlachten und schnellen Ereignissen eine so große Wirkung macht, wohl aber drückte er den Jmperativ nie anders als durch den Jnfinitiv aus: "ruhig seyn, stillschweigen, fortfahren!" waren die stöhnenden und ermatteten Befehle, welche er ertheilte. Genug, dieser etwas frauenzimmerliche Gentleman besaß gediegene Kenntnisse, aber wiederum nur formelle. Er hatte sich ein gewisses Feld von Bemerkungen abgesteckt und jagte gern nach Anakoluthien, rhetorischen Figuren, regulären Ausnahmen von den irregulären Regeln und dergleichen. Ja er besaß sogar die Eitelkeit oder vielmehr Entsagung, da er sie doch hätte besser benutzen können, uns die ganze Stunde hindurch aus seinen Studienbüchern Parallelstellen zu diktiren, die zu vergleichen mir und keinem meiner Mitschüler jemals eingefallen ist. Von der kunstvollen Anlegung eines platonischen Dialogs bekamen wir wenig Einsicht; er erklärte wohl das Einzelne, aber nicht das Ganze; unser Gedächtniß nahm er nur in Anspruch für die Anknüpfungen, die er an Plato machte, für Plato selbst am wenigsten. konnte und sich alle unnütze Fragen verbat; mitten im Sommer hüllte er sich in seinen Mantel ein und rief, wenn er in die Klasse trat und die Fenster geöffnet fand, mit einer ersterbenden Fistelstimme: "Sämmtliche Fenster zu!" Das Sprechen kostete ihn so viel Anstrengung, daß er sich nicht einmal die Mühe gab, die Zeitwörter, die er doch brauchte, um sich verständlich zu machen, zu flektiren. Er gebrauchte zwar nicht den historischen Jnfinitiv der Alten, der in Beschreibung von Schlachten und schnellen Ereignissen eine so große Wirkung macht, wohl aber drückte er den Jmperativ nie anders als durch den Jnfinitiv aus: "ruhig seyn, stillschweigen, fortfahren!" waren die stöhnenden und ermatteten Befehle, welche er ertheilte. Genug, dieser etwas frauenzimmerliche Gentleman besaß gediegene Kenntnisse, aber wiederum nur formelle. Er hatte sich ein gewisses Feld von Bemerkungen abgesteckt und jagte gern nach Anakoluthien, rhetorischen Figuren, regulären Ausnahmen von den irregulären Regeln und dergleichen. Ja er besaß sogar die Eitelkeit oder vielmehr Entsagung, da er sie doch hätte besser benutzen können, uns die ganze Stunde hindurch aus seinen Studienbüchern Parallelstellen zu diktiren, die zu vergleichen mir und keinem meiner Mitschüler jemals eingefallen ist. Von der kunstvollen Anlegung eines platonischen Dialogs bekamen wir wenig Einsicht; er erklärte wohl das Einzelne, aber nicht das Ganze; unser Gedächtniß nahm er nur in Anspruch für die Anknüpfungen, die er an Plato machte, für Plato selbst am wenigsten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0391" n="363"/> konnte und sich alle unnütze Fragen verbat; mitten im Sommer hüllte er sich in seinen Mantel ein und rief, wenn er in die Klasse trat und die Fenster geöffnet fand, mit einer ersterbenden Fistelstimme: "Sämmtliche Fenster zu!" Das Sprechen kostete ihn so viel Anstrengung, daß er sich nicht einmal die Mühe gab, die Zeitwörter, die er doch brauchte, um sich verständlich zu machen, zu flektiren. Er gebrauchte zwar nicht den historischen Jnfinitiv der Alten, der in Beschreibung von Schlachten und schnellen Ereignissen eine so große Wirkung macht, wohl aber drückte er den Jmperativ nie anders als durch den Jnfinitiv aus: "ruhig seyn, stillschweigen, fortfahren!" waren die stöhnenden und ermatteten Befehle, welche er ertheilte. Genug, dieser etwas frauenzimmerliche Gentleman besaß gediegene Kenntnisse, aber wiederum nur formelle. Er hatte sich ein gewisses Feld von Bemerkungen abgesteckt und jagte gern nach Anakoluthien, rhetorischen Figuren, regulären Ausnahmen von den irregulären Regeln und dergleichen. Ja er besaß sogar die Eitelkeit oder vielmehr Entsagung, da er sie doch hätte besser benutzen können, uns die ganze Stunde hindurch aus seinen Studienbüchern Parallelstellen zu diktiren, die zu vergleichen mir und keinem meiner Mitschüler jemals eingefallen ist. Von der kunstvollen Anlegung eines platonischen Dialogs bekamen wir wenig Einsicht; er erklärte wohl das Einzelne, aber nicht das Ganze; unser Gedächtniß nahm er nur in Anspruch für die Anknüpfungen, die er an Plato machte, für Plato selbst am wenigsten. </p> </div> </body> </text> </TEI> [363/0391]
konnte und sich alle unnütze Fragen verbat; mitten im Sommer hüllte er sich in seinen Mantel ein und rief, wenn er in die Klasse trat und die Fenster geöffnet fand, mit einer ersterbenden Fistelstimme: "Sämmtliche Fenster zu!" Das Sprechen kostete ihn so viel Anstrengung, daß er sich nicht einmal die Mühe gab, die Zeitwörter, die er doch brauchte, um sich verständlich zu machen, zu flektiren. Er gebrauchte zwar nicht den historischen Jnfinitiv der Alten, der in Beschreibung von Schlachten und schnellen Ereignissen eine so große Wirkung macht, wohl aber drückte er den Jmperativ nie anders als durch den Jnfinitiv aus: "ruhig seyn, stillschweigen, fortfahren!" waren die stöhnenden und ermatteten Befehle, welche er ertheilte. Genug, dieser etwas frauenzimmerliche Gentleman besaß gediegene Kenntnisse, aber wiederum nur formelle. Er hatte sich ein gewisses Feld von Bemerkungen abgesteckt und jagte gern nach Anakoluthien, rhetorischen Figuren, regulären Ausnahmen von den irregulären Regeln und dergleichen. Ja er besaß sogar die Eitelkeit oder vielmehr Entsagung, da er sie doch hätte besser benutzen können, uns die ganze Stunde hindurch aus seinen Studienbüchern Parallelstellen zu diktiren, die zu vergleichen mir und keinem meiner Mitschüler jemals eingefallen ist. Von der kunstvollen Anlegung eines platonischen Dialogs bekamen wir wenig Einsicht; er erklärte wohl das Einzelne, aber nicht das Ganze; unser Gedächtniß nahm er nur in Anspruch für die Anknüpfungen, die er an Plato machte, für Plato selbst am wenigsten.
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/391>, abgerufen am 28.07.2024. |