Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.nicht rechnet, zu studiren. Bietet sich seiner Lektüre nichts Neues dar, so kehrt er auf das Alte zurück. Byron und alle Neuern mißfallen ihm: er vermißt in ihnen zwar nicht die Natur, aber die Seelenruhe, welche die Natur gewährt. "Sie zerpflücken," sagte er über die modernen Dichter zu mir, "sie zerpflücken Alles, was ihnen unter die Hände kömmt. Auch die Natur, die einfache, stille Natur raffiniren sie; sie kommen auf sie nur aus Genußsucht zurück, verbrauchen einen Sturm, eine Landschaft, eine Aussicht und stürzen sich dann wieder andern Dingen in die Arme. Ein Dichter darf von der Natur nichts entlehnen. Er muß sie entweder fliehen oder ganz in ihr wohnen." Wilson's Theologie ist sehr einfach und weit natürlicher, als das Christenthum. Wenn etwas Revolutionäres in ihm steckt, so ist es sein religiöser Freisinn. Er ist stolz auf seine Tugenden; dieß führte ihn von dem kirchlichen Gott ab. Man wird ihn nie in einen Tempel gehen sehen, er hat nur einmal in seinem Leben das Abendmahl genommen. Die ganze Freigeisterei des vorigen Jahrhunderts steckt in ihm und könnte sein Bild entstellen, wenn er nicht so schöne, edle Sitten besäße. Wilson strebte darnach, sich von allen Leidenschaften zu befreien. Er trinkt nur Wasser, er trägt nur einen Rock, nie einen Frack; sein Gemüth beherrscht dieselbe Einfachheit. Er könnte den Tod seiner Kinder hören und würde nur still sagen: So! Kurz, dieß ist ein Mensch, der ungemein anziehend wirkt, mit dem ich nicht rechnet, zu studiren. Bietet sich seiner Lektüre nichts Neues dar, so kehrt er auf das Alte zurück. Byron und alle Neuern mißfallen ihm: er vermißt in ihnen zwar nicht die Natur, aber die Seelenruhe, welche die Natur gewährt. "Sie zerpflücken," sagte er über die modernen Dichter zu mir, "sie zerpflücken Alles, was ihnen unter die Hände kömmt. Auch die Natur, die einfache, stille Natur raffiniren sie; sie kommen auf sie nur aus Genußsucht zurück, verbrauchen einen Sturm, eine Landschaft, eine Aussicht und stürzen sich dann wieder andern Dingen in die Arme. Ein Dichter darf von der Natur nichts entlehnen. Er muß sie entweder fliehen oder ganz in ihr wohnen.“ Wilson’s Theologie ist sehr einfach und weit natürlicher, als das Christenthum. Wenn etwas Revolutionäres in ihm steckt, so ist es sein religiöser Freisinn. Er ist stolz auf seine Tugenden; dieß führte ihn von dem kirchlichen Gott ab. Man wird ihn nie in einen Tempel gehen sehen, er hat nur einmal in seinem Leben das Abendmahl genommen. Die ganze Freigeisterei des vorigen Jahrhunderts steckt in ihm und könnte sein Bild entstellen, wenn er nicht so schöne, edle Sitten besäße. Wilson strebte darnach, sich von allen Leidenschaften zu befreien. Er trinkt nur Wasser, er trägt nur einen Rock, nie einen Frack; sein Gemüth beherrscht dieselbe Einfachheit. Er könnte den Tod seiner Kinder hören und würde nur still sagen: So! Kurz, dieß ist ein Mensch, der ungemein anziehend wirkt, mit dem ich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0038" n="10"/> nicht rechnet, zu studiren. Bietet sich seiner Lektüre nichts Neues dar, so kehrt er auf das Alte zurück. Byron und alle Neuern mißfallen ihm: er vermißt in ihnen zwar nicht die Natur, aber die Seelenruhe, welche die Natur gewährt. "Sie zerpflücken," sagte er über die modernen Dichter zu mir, "sie zerpflücken Alles, was ihnen unter die Hände kömmt. Auch die Natur, die einfache, stille Natur raffiniren sie; sie kommen auf sie nur aus Genußsucht zurück, verbrauchen einen Sturm, eine Landschaft, eine Aussicht und stürzen sich dann wieder andern Dingen in die Arme. Ein Dichter darf von der Natur nichts entlehnen. Er muß sie entweder fliehen oder ganz in ihr wohnen.“</p> <p>Wilson’s Theologie ist sehr einfach und weit natürlicher, als das Christenthum. Wenn etwas Revolutionäres in ihm steckt, so ist es sein religiöser Freisinn. Er ist stolz auf seine Tugenden; dieß führte ihn von dem kirchlichen Gott ab. Man wird ihn nie in einen Tempel gehen sehen, er hat nur einmal in seinem Leben das Abendmahl genommen. Die ganze Freigeisterei des vorigen Jahrhunderts steckt in ihm und könnte sein Bild entstellen, wenn er nicht so schöne, edle Sitten besäße. Wilson strebte darnach, sich von allen Leidenschaften zu befreien. Er trinkt nur Wasser, er trägt nur einen Rock, nie einen Frack; sein Gemüth beherrscht dieselbe Einfachheit. Er könnte den Tod seiner Kinder hören und würde nur still sagen: So! Kurz, dieß ist ein Mensch, der ungemein anziehend wirkt, mit dem ich </p> </div> </body> </text> </TEI> [10/0038]
nicht rechnet, zu studiren. Bietet sich seiner Lektüre nichts Neues dar, so kehrt er auf das Alte zurück. Byron und alle Neuern mißfallen ihm: er vermißt in ihnen zwar nicht die Natur, aber die Seelenruhe, welche die Natur gewährt. "Sie zerpflücken," sagte er über die modernen Dichter zu mir, "sie zerpflücken Alles, was ihnen unter die Hände kömmt. Auch die Natur, die einfache, stille Natur raffiniren sie; sie kommen auf sie nur aus Genußsucht zurück, verbrauchen einen Sturm, eine Landschaft, eine Aussicht und stürzen sich dann wieder andern Dingen in die Arme. Ein Dichter darf von der Natur nichts entlehnen. Er muß sie entweder fliehen oder ganz in ihr wohnen.“
Wilson’s Theologie ist sehr einfach und weit natürlicher, als das Christenthum. Wenn etwas Revolutionäres in ihm steckt, so ist es sein religiöser Freisinn. Er ist stolz auf seine Tugenden; dieß führte ihn von dem kirchlichen Gott ab. Man wird ihn nie in einen Tempel gehen sehen, er hat nur einmal in seinem Leben das Abendmahl genommen. Die ganze Freigeisterei des vorigen Jahrhunderts steckt in ihm und könnte sein Bild entstellen, wenn er nicht so schöne, edle Sitten besäße. Wilson strebte darnach, sich von allen Leidenschaften zu befreien. Er trinkt nur Wasser, er trägt nur einen Rock, nie einen Frack; sein Gemüth beherrscht dieselbe Einfachheit. Er könnte den Tod seiner Kinder hören und würde nur still sagen: So! Kurz, dieß ist ein Mensch, der ungemein anziehend wirkt, mit dem ich
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