Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Türkei im Kampf gelegen und jetzt nimmt Rußland die Miene des intimsten Freundes der Pforte an, und Oesterreich, obschon weniger zudringlich, hat es vielleicht wirklich ernst damit. Gelingt es wohl Preußen und Rußland, ihre auswärtige Politik noch länger auf den Haß gegen Frankreich zu begründen? Haben sich nicht schon in Deutschland alle Spuren des Franzosenhasses in dem Grade verwischt, als auch in Frankreich, selbst auf der äußersten Linken, sich die Ansprüche auf das linke Rheinufer milderten! Eine solche Wahrheit, daß Nationen nicht durch Flüsse getrennt, sondern nur verbunden werden, daß also auch der Rhein keine Grenze zwischen Frankreich und Deutschland bilden könne, ist stärker und siegreicher, als Vorurtheile, wenn sie auch noch so tief in den Gemüthern wurzelten. Ja, was die auswärtige Politik betrifft, so befinden wir uns sogar schon in diesem Augenblicke auf einem Uebergange, welchen man sich für die Prinzipien derselben vor 10 Jahren noch nicht möglich dachte. Die politischen Systeme sind in zwei Feldlager getheilt; hier ist Fortschritt, dort Stillstand das Losungswort. Jeder geht mit seiner Partei; auch die Staaten, die ein und dasselbe System haben, sollte man glauben, müßten Hand in Hand gehen, müßten durch Bündnisse sich stark machen, um den gemeinschaftlichen Feind zu werfen, müßten überall nach einer vorher getroffenen freundschaftlichen Verabredung einschreiten. Finden wir diese Politik befolgt? Vor einem Decennium hatte es das Ansehen. Türkei im Kampf gelegen und jetzt nimmt Rußland die Miene des intimsten Freundes der Pforte an, und Oesterreich, obschon weniger zudringlich, hat es vielleicht wirklich ernst damit. Gelingt es wohl Preußen und Rußland, ihre auswärtige Politik noch länger auf den Haß gegen Frankreich zu begründen? Haben sich nicht schon in Deutschland alle Spuren des Franzosenhasses in dem Grade verwischt, als auch in Frankreich, selbst auf der äußersten Linken, sich die Ansprüche auf das linke Rheinufer milderten! Eine solche Wahrheit, daß Nationen nicht durch Flüsse getrennt, sondern nur verbunden werden, daß also auch der Rhein keine Grenze zwischen Frankreich und Deutschland bilden könne, ist stärker und siegreicher, als Vorurtheile, wenn sie auch noch so tief in den Gemüthern wurzelten. Ja, was die auswärtige Politik betrifft, so befinden wir uns sogar schon in diesem Augenblicke auf einem Uebergange, welchen man sich für die Prinzipien derselben vor 10 Jahren noch nicht möglich dachte. Die politischen Systeme sind in zwei Feldlager getheilt; hier ist Fortschritt, dort Stillstand das Losungswort. Jeder geht mit seiner Partei; auch die Staaten, die ein und dasselbe System haben, sollte man glauben, müßten Hand in Hand gehen, müßten durch Bündnisse sich stark machen, um den gemeinschaftlichen Feind zu werfen, müßten überall nach einer vorher getroffenen freundschaftlichen Verabredung einschreiten. Finden wir diese Politik befolgt? Vor einem Decennium hatte es das Ansehen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0346" n="318"/> Türkei im Kampf gelegen und jetzt nimmt Rußland die Miene des intimsten Freundes der Pforte an, und Oesterreich, obschon weniger zudringlich, hat es vielleicht wirklich ernst damit. Gelingt es wohl Preußen und Rußland, ihre auswärtige Politik noch länger auf den Haß gegen Frankreich zu begründen? Haben sich nicht schon in Deutschland alle Spuren des Franzosenhasses in dem Grade verwischt, als auch in Frankreich, selbst auf der äußersten Linken, sich die Ansprüche auf das linke Rheinufer milderten! Eine solche Wahrheit, daß Nationen nicht durch Flüsse getrennt, sondern nur verbunden werden, daß also auch der Rhein keine Grenze zwischen Frankreich und Deutschland bilden könne, ist stärker und siegreicher, als Vorurtheile, wenn sie auch noch so tief in den Gemüthern wurzelten.</p> <p>Ja, was die auswärtige Politik betrifft, so befinden wir uns sogar schon in diesem Augenblicke auf einem Uebergange, welchen man sich für die Prinzipien derselben vor 10 Jahren noch nicht möglich dachte. Die politischen Systeme sind in zwei Feldlager getheilt; hier ist Fortschritt, dort Stillstand das Losungswort. Jeder geht mit seiner Partei; auch die Staaten, die ein und dasselbe System haben, sollte man glauben, müßten Hand in Hand gehen, müßten durch Bündnisse sich stark machen, um den gemeinschaftlichen Feind zu werfen, müßten überall nach einer vorher getroffenen freundschaftlichen Verabredung einschreiten. Finden wir diese Politik befolgt? Vor einem Decennium hatte es das Ansehen. </p> </div> </body> </text> </TEI> [318/0346]
Türkei im Kampf gelegen und jetzt nimmt Rußland die Miene des intimsten Freundes der Pforte an, und Oesterreich, obschon weniger zudringlich, hat es vielleicht wirklich ernst damit. Gelingt es wohl Preußen und Rußland, ihre auswärtige Politik noch länger auf den Haß gegen Frankreich zu begründen? Haben sich nicht schon in Deutschland alle Spuren des Franzosenhasses in dem Grade verwischt, als auch in Frankreich, selbst auf der äußersten Linken, sich die Ansprüche auf das linke Rheinufer milderten! Eine solche Wahrheit, daß Nationen nicht durch Flüsse getrennt, sondern nur verbunden werden, daß also auch der Rhein keine Grenze zwischen Frankreich und Deutschland bilden könne, ist stärker und siegreicher, als Vorurtheile, wenn sie auch noch so tief in den Gemüthern wurzelten.
Ja, was die auswärtige Politik betrifft, so befinden wir uns sogar schon in diesem Augenblicke auf einem Uebergange, welchen man sich für die Prinzipien derselben vor 10 Jahren noch nicht möglich dachte. Die politischen Systeme sind in zwei Feldlager getheilt; hier ist Fortschritt, dort Stillstand das Losungswort. Jeder geht mit seiner Partei; auch die Staaten, die ein und dasselbe System haben, sollte man glauben, müßten Hand in Hand gehen, müßten durch Bündnisse sich stark machen, um den gemeinschaftlichen Feind zu werfen, müßten überall nach einer vorher getroffenen freundschaftlichen Verabredung einschreiten. Finden wir diese Politik befolgt? Vor einem Decennium hatte es das Ansehen.
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/346>, abgerufen am 28.07.2024. |