Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Der Brutus unsrer Tage versteckt sich in einen gewöhnlichen Frack mit einer Reihe von Knöpfen, hinten etwas spitz zugeschnitten, eben so unsre Appius Claudius, unsre verschlagenen Menenius Agrippa. Eine vague Oberflächlichkeit hat sich über die Jndividuen gelegt und nivellirt ihre Eigenthümlichkeiten. Das kompresse, knappe und zugeknöpfte Wesen unsrer Zeit schnürt zwar noch nicht alles Blut aus dem Herzen weg; aber die Menschen sind sich ähnlicher geworden, ihr Charakter dehnt sich nicht besonders aus; er ist vielleicht sehr energisch, aber man kann ihn mit zwei Fingern umspannen. Meine Aufgabe ist daher sehr schwierig. Die Massen unsrer Jahrhunderte lassen sich leichter zeichnen, als die Jndividuen. Jch will aber zuvörderst die Reste nicht übersehen, welche uns das vorige Jahrhundert zurückgelassen hat. Man glaube nicht, daß ich hier die Professoren von Oxford meine oder jene Theologen, die ihren Glauben nur in den hölzernen Paragraphen kleiner lateinisch geschriebener Dogmatiken festgeklemmt sitzen haben; diese Art Menschen stirbt nicht aus, der Pedantismus stirbt nicht aus, die Heuchelei nicht, die Geschmacklosigkeit nicht, kurz alle die Laster, die es geben muß, weil sie der Tugend zum Abstich dienen müssen. Nein! ich meine jenen Jünglingsmann, mit dem ich oft gesehen werde, jenen außerordentlichen Fünfziger, der das Haar eines Sechzigers, aber die Gesichtsfarbe eines Neunzehnjährigen hat. Mein wackerer Freund! du verstehst mich nicht; aber jede Fieber, die auf deinem philosophischen Der Brutus unsrer Tage versteckt sich in einen gewöhnlichen Frack mit einer Reihe von Knöpfen, hinten etwas spitz zugeschnitten, eben so unsre Appius Claudius, unsre verschlagenen Menenius Agrippa. Eine vague Oberflächlichkeit hat sich über die Jndividuen gelegt und nivellirt ihre Eigenthümlichkeiten. Das kompresse, knappe und zugeknöpfte Wesen unsrer Zeit schnürt zwar noch nicht alles Blut aus dem Herzen weg; aber die Menschen sind sich ähnlicher geworden, ihr Charakter dehnt sich nicht besonders aus; er ist vielleicht sehr energisch, aber man kann ihn mit zwei Fingern umspannen. Meine Aufgabe ist daher sehr schwierig. Die Massen unsrer Jahrhunderte lassen sich leichter zeichnen, als die Jndividuen. Jch will aber zuvörderst die Reste nicht übersehen, welche uns das vorige Jahrhundert zurückgelassen hat. Man glaube nicht, daß ich hier die Professoren von Oxford meine oder jene Theologen, die ihren Glauben nur in den hölzernen Paragraphen kleiner lateinisch geschriebener Dogmatiken festgeklemmt sitzen haben; diese Art Menschen stirbt nicht aus, der Pedantismus stirbt nicht aus, die Heuchelei nicht, die Geschmacklosigkeit nicht, kurz alle die Laster, die es geben muß, weil sie der Tugend zum Abstich dienen müssen. Nein! ich meine jenen Jünglingsmann, mit dem ich oft gesehen werde, jenen außerordentlichen Fünfziger, der das Haar eines Sechzigers, aber die Gesichtsfarbe eines Neunzehnjährigen hat. Mein wackerer Freund! du verstehst mich nicht; aber jede Fieber, die auf deinem philosophischen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0031" n="3"/> <p> Der Brutus unsrer Tage versteckt sich in einen gewöhnlichen Frack mit einer Reihe von Knöpfen, hinten etwas spitz zugeschnitten, eben so unsre Appius Claudius, unsre verschlagenen Menenius Agrippa. Eine vague Oberflächlichkeit hat sich über die Jndividuen gelegt und nivellirt ihre Eigenthümlichkeiten. Das kompresse, knappe und zugeknöpfte Wesen unsrer Zeit schnürt zwar noch nicht alles Blut aus dem Herzen weg; aber die Menschen sind sich ähnlicher geworden, ihr Charakter dehnt sich nicht besonders aus; er ist vielleicht sehr energisch, aber man kann ihn mit zwei Fingern umspannen. Meine Aufgabe ist daher sehr schwierig. Die Massen unsrer Jahrhunderte lassen sich leichter zeichnen, als die Jndividuen.</p> <p>Jch will aber zuvörderst die Reste nicht übersehen, welche uns das vorige Jahrhundert zurückgelassen hat. Man glaube nicht, daß ich hier die Professoren von Oxford meine oder jene Theologen, die ihren Glauben nur in den hölzernen Paragraphen kleiner lateinisch geschriebener Dogmatiken festgeklemmt sitzen haben; diese Art Menschen stirbt nicht aus, der Pedantismus stirbt nicht aus, die Heuchelei nicht, die Geschmacklosigkeit nicht, kurz alle die Laster, die es geben muß, weil sie der Tugend zum Abstich dienen müssen. Nein! ich meine jenen Jünglingsmann, mit dem ich oft gesehen werde, jenen außerordentlichen Fünfziger, der das Haar eines Sechzigers, aber die Gesichtsfarbe eines Neunzehnjährigen hat. Mein wackerer Freund! du verstehst mich nicht; aber jede Fieber, die auf deinem philosophischen </p> </div> </body> </text> </TEI> [3/0031]
Der Brutus unsrer Tage versteckt sich in einen gewöhnlichen Frack mit einer Reihe von Knöpfen, hinten etwas spitz zugeschnitten, eben so unsre Appius Claudius, unsre verschlagenen Menenius Agrippa. Eine vague Oberflächlichkeit hat sich über die Jndividuen gelegt und nivellirt ihre Eigenthümlichkeiten. Das kompresse, knappe und zugeknöpfte Wesen unsrer Zeit schnürt zwar noch nicht alles Blut aus dem Herzen weg; aber die Menschen sind sich ähnlicher geworden, ihr Charakter dehnt sich nicht besonders aus; er ist vielleicht sehr energisch, aber man kann ihn mit zwei Fingern umspannen. Meine Aufgabe ist daher sehr schwierig. Die Massen unsrer Jahrhunderte lassen sich leichter zeichnen, als die Jndividuen.
Jch will aber zuvörderst die Reste nicht übersehen, welche uns das vorige Jahrhundert zurückgelassen hat. Man glaube nicht, daß ich hier die Professoren von Oxford meine oder jene Theologen, die ihren Glauben nur in den hölzernen Paragraphen kleiner lateinisch geschriebener Dogmatiken festgeklemmt sitzen haben; diese Art Menschen stirbt nicht aus, der Pedantismus stirbt nicht aus, die Heuchelei nicht, die Geschmacklosigkeit nicht, kurz alle die Laster, die es geben muß, weil sie der Tugend zum Abstich dienen müssen. Nein! ich meine jenen Jünglingsmann, mit dem ich oft gesehen werde, jenen außerordentlichen Fünfziger, der das Haar eines Sechzigers, aber die Gesichtsfarbe eines Neunzehnjährigen hat. Mein wackerer Freund! du verstehst mich nicht; aber jede Fieber, die auf deinem philosophischen
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/31>, abgerufen am 27.07.2024. |