Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Meinung über Gegenstände des höhern Nachdenkens eng verschwistert mit allen übrigen Erscheinungen der damaligen Zeit. Man bemerke aber wohl: man philosophirte weniger über die Massen, als über das Jndividuum. Daher läßt sich auch der Mensch der alten Zeit weit leichter definiren, als der der neuen. Die alte Zeit war auf den Menschen berechnet, jetzt muß der Mensch nach ihr sich einrichten. Schon das Kind in der Wiege war damals Gegenstand mannigfacher Theorien, der Knabe stand unter einer Zucht, die zuerst von einer lächerlichen Strenge, später von einer strengen Lächerlichkeit gehandhabt wurde. Den Bakel verdrängte eine Ruthe, die aber mehr die Wünschelruthe nach allerhand idealistischen Schätzen war, wie Rousseau nach ihnen zu graben angefangen hatte. Der Jüngling, der Mann, die Bildung des Weibes; alle diese Stadien sind leichter zu ermessen, als die entsprechenden in unsrer Zeit. Von den gestickten Westen Louis XJV. zu den englischen Ueberröcken der Regentschaft, von diesen wieder durch die Erfindung der Haarbeutel bis zu den Stulpstiefeln und den großen Brustklappen an den Röcken der Jacobiner, von dem Wallfischflossengerüst an den Hüften der bereifrockten Weiber bis zur Erfindung des englischen Negligee oder der griechisch-französischen Durchsichtigkeit mit kurzer, aufgeschürzter Taille, ist es ein Zeitraum, wo die äußerlichsten Erscheinungen dazu dienen konnten, die inneren Gefühle und Gedanken anschaulich zu machen. Das ist Alles anders geworden. Meinung über Gegenstände des höhern Nachdenkens eng verschwistert mit allen übrigen Erscheinungen der damaligen Zeit. Man bemerke aber wohl: man philosophirte weniger über die Massen, als über das Jndividuum. Daher läßt sich auch der Mensch der alten Zeit weit leichter definiren, als der der neuen. Die alte Zeit war auf den Menschen berechnet, jetzt muß der Mensch nach ihr sich einrichten. Schon das Kind in der Wiege war damals Gegenstand mannigfacher Theorien, der Knabe stand unter einer Zucht, die zuerst von einer lächerlichen Strenge, später von einer strengen Lächerlichkeit gehandhabt wurde. Den Bakel verdrängte eine Ruthe, die aber mehr die Wünschelruthe nach allerhand idealistischen Schätzen war, wie Rousseau nach ihnen zu graben angefangen hatte. Der Jüngling, der Mann, die Bildung des Weibes; alle diese Stadien sind leichter zu ermessen, als die entsprechenden in unsrer Zeit. Von den gestickten Westen Louis XJV. zu den englischen Ueberröcken der Regentschaft, von diesen wieder durch die Erfindung der Haarbeutel bis zu den Stulpstiefeln und den großen Brustklappen an den Röcken der Jacobiner, von dem Wallfischflossengerüst an den Hüften der bereifrockten Weiber bis zur Erfindung des englischen Negligée oder der griechisch-französischen Durchsichtigkeit mit kurzer, aufgeschürzter Taille, ist es ein Zeitraum, wo die äußerlichsten Erscheinungen dazu dienen konnten, die inneren Gefühle und Gedanken anschaulich zu machen. Das ist Alles anders geworden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0030" n="2"/> Meinung über Gegenstände des höhern Nachdenkens eng verschwistert mit allen übrigen Erscheinungen der damaligen Zeit. Man bemerke aber wohl: man philosophirte weniger über die Massen, als über das Jndividuum.</p> <p>Daher läßt sich auch der Mensch der alten Zeit weit leichter definiren, als der der neuen. Die alte Zeit war auf den Menschen berechnet, jetzt muß der Mensch nach ihr sich einrichten. Schon das Kind in der Wiege war damals Gegenstand mannigfacher Theorien, der Knabe stand unter einer Zucht, die zuerst von einer lächerlichen Strenge, später von einer strengen Lächerlichkeit gehandhabt wurde. Den Bakel verdrängte eine Ruthe, die aber mehr die Wünschelruthe nach allerhand idealistischen Schätzen war, wie Rousseau nach ihnen zu graben angefangen hatte. Der Jüngling, der Mann, die Bildung des Weibes; alle diese Stadien sind leichter zu ermessen, als die entsprechenden in unsrer Zeit. Von den gestickten Westen Louis <hi rendition="#aq">XJV.</hi> zu den englischen Ueberröcken der Regentschaft, von diesen wieder durch die Erfindung der Haarbeutel bis zu den Stulpstiefeln und den großen Brustklappen an den Röcken der Jacobiner, von dem Wallfischflossengerüst an den Hüften der bereifrockten Weiber bis zur Erfindung des englischen Negligée oder der griechisch-französischen Durchsichtigkeit mit kurzer, aufgeschürzter Taille, ist es ein Zeitraum, wo die äußerlichsten Erscheinungen dazu dienen konnten, die inneren Gefühle und Gedanken anschaulich zu machen. Das ist Alles anders geworden.</p> </div> </body> </text> </TEI> [2/0030]
Meinung über Gegenstände des höhern Nachdenkens eng verschwistert mit allen übrigen Erscheinungen der damaligen Zeit. Man bemerke aber wohl: man philosophirte weniger über die Massen, als über das Jndividuum.
Daher läßt sich auch der Mensch der alten Zeit weit leichter definiren, als der der neuen. Die alte Zeit war auf den Menschen berechnet, jetzt muß der Mensch nach ihr sich einrichten. Schon das Kind in der Wiege war damals Gegenstand mannigfacher Theorien, der Knabe stand unter einer Zucht, die zuerst von einer lächerlichen Strenge, später von einer strengen Lächerlichkeit gehandhabt wurde. Den Bakel verdrängte eine Ruthe, die aber mehr die Wünschelruthe nach allerhand idealistischen Schätzen war, wie Rousseau nach ihnen zu graben angefangen hatte. Der Jüngling, der Mann, die Bildung des Weibes; alle diese Stadien sind leichter zu ermessen, als die entsprechenden in unsrer Zeit. Von den gestickten Westen Louis XJV. zu den englischen Ueberröcken der Regentschaft, von diesen wieder durch die Erfindung der Haarbeutel bis zu den Stulpstiefeln und den großen Brustklappen an den Röcken der Jacobiner, von dem Wallfischflossengerüst an den Hüften der bereifrockten Weiber bis zur Erfindung des englischen Negligée oder der griechisch-französischen Durchsichtigkeit mit kurzer, aufgeschürzter Taille, ist es ein Zeitraum, wo die äußerlichsten Erscheinungen dazu dienen konnten, die inneren Gefühle und Gedanken anschaulich zu machen. Das ist Alles anders geworden.
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/30>, abgerufen am 27.07.2024. |