Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

Bild:
<< vorherige Seite

aus dem Bedürfniß Gebornes an seine Stelle zu setzen? Der St. Simonismus, wenn ich mir ihn von seinen Anhängern aufrichtig bekannt und innerlich aufgenommen denke, überragt jede christliche Scheintugend. Die Religion leugnen und doch auf die Religion wieder zurückkommen, das hat Christus selbst schon als das dem Himmel Wohlgefälligste bezeichnet, indem er sagte: Ein reuiger Sünder ist Gott wohlgefälliger, als hundert Gerechte. Die St. Simonisten weichen nur darin vom Christenthum ab, daß sie die Erde gegen den Himmel in ihre Rechte einsetzen wollten. Thaten sie dieß ursprünglich auf frivole Weise? Nein. Sie glichen nicht dem Redner Demades in Athen, der, als die Athenienser sich über Demetrius beklagten, daß er von seiner Person mehr Statuen an öffentliche Oerter setzen ließ, als Götterbilder da waren, ihnen gemein genug andeutete: Athenienser, hütet Euch, daß, indem ihr den Himmel vertheidigt, ihr nicht um die Erde gebracht werdet! Die St. Simonisten bezweckten eine Harmonie der geistigen und leiblichen Jnteressen. Ob sie diese zu Stande gebracht haben, läßt sich sehr bezweifeln. Daß aber eine Ausgleichung der physischen und moralischen Ansprüche an die menschliche Existenz zu den großen Problemen unserer Zeit gehört, das werden wohl diejenigen am wenigsten leugnen, welche sich auf ihren Kanzeln gewöhnlich der Wendung bedienen, daß der Gerechte hienieden leiden müsse, um dereinst in größerer Herrlichkeit entschädigt zu werden.

aus dem Bedürfniß Gebornes an seine Stelle zu setzen? Der St. Simonismus, wenn ich mir ihn von seinen Anhängern aufrichtig bekannt und innerlich aufgenommen denke, überragt jede christliche Scheintugend. Die Religion leugnen und doch auf die Religion wieder zurückkommen, das hat Christus selbst schon als das dem Himmel Wohlgefälligste bezeichnet, indem er sagte: Ein reuiger Sünder ist Gott wohlgefälliger, als hundert Gerechte. Die St. Simonisten weichen nur darin vom Christenthum ab, daß sie die Erde gegen den Himmel in ihre Rechte einsetzen wollten. Thaten sie dieß ursprünglich auf frivole Weise? Nein. Sie glichen nicht dem Redner Demades in Athen, der, als die Athenienser sich über Demetrius beklagten, daß er von seiner Person mehr Statuen an öffentliche Oerter setzen ließ, als Götterbilder da waren, ihnen gemein genug andeutete: Athenienser, hütet Euch, daß, indem ihr den Himmel vertheidigt, ihr nicht um die Erde gebracht werdet! Die St. Simonisten bezweckten eine Harmonie der geistigen und leiblichen Jnteressen. Ob sie diese zu Stande gebracht haben, läßt sich sehr bezweifeln. Daß aber eine Ausgleichung der physischen und moralischen Ansprüche an die menschliche Existenz zu den großen Problemen unserer Zeit gehört, das werden wohl diejenigen am wenigsten leugnen, welche sich auf ihren Kanzeln gewöhnlich der Wendung bedienen, daß der Gerechte hienieden leiden müsse, um dereinst in größerer Herrlichkeit entschädigt zu werden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0244" n="216"/>
aus dem Bedürfniß Gebornes an seine Stelle zu setzen? Der St. Simonismus, wenn ich mir ihn von seinen Anhängern aufrichtig bekannt und innerlich aufgenommen denke, überragt jede christliche Scheintugend. Die Religion leugnen und doch auf die Religion wieder zurückkommen, das hat Christus selbst schon als das dem Himmel Wohlgefälligste bezeichnet, indem er sagte: Ein reuiger Sünder ist Gott wohlgefälliger, als hundert Gerechte. Die St. Simonisten weichen nur darin vom Christenthum ab, daß sie die Erde gegen den Himmel in ihre Rechte einsetzen wollten. Thaten sie dieß ursprünglich auf frivole Weise? Nein. Sie glichen nicht dem Redner Demades in Athen, der, als die Athenienser sich über Demetrius beklagten, daß er von seiner Person mehr Statuen an öffentliche Oerter setzen ließ, als Götterbilder da waren, ihnen gemein genug andeutete: Athenienser, hütet Euch, daß, indem ihr den Himmel vertheidigt, ihr nicht um die Erde gebracht werdet! Die St. Simonisten bezweckten eine Harmonie der geistigen und leiblichen Jnteressen. Ob sie diese zu Stande gebracht haben, läßt sich sehr bezweifeln. Daß aber eine Ausgleichung der physischen und moralischen Ansprüche an die menschliche Existenz zu den großen Problemen unserer Zeit gehört, das werden wohl diejenigen am wenigsten leugnen, welche sich auf ihren Kanzeln gewöhnlich der Wendung bedienen, daß der Gerechte hienieden leiden müsse, um dereinst in größerer Herrlichkeit entschädigt zu werden.</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0244] aus dem Bedürfniß Gebornes an seine Stelle zu setzen? Der St. Simonismus, wenn ich mir ihn von seinen Anhängern aufrichtig bekannt und innerlich aufgenommen denke, überragt jede christliche Scheintugend. Die Religion leugnen und doch auf die Religion wieder zurückkommen, das hat Christus selbst schon als das dem Himmel Wohlgefälligste bezeichnet, indem er sagte: Ein reuiger Sünder ist Gott wohlgefälliger, als hundert Gerechte. Die St. Simonisten weichen nur darin vom Christenthum ab, daß sie die Erde gegen den Himmel in ihre Rechte einsetzen wollten. Thaten sie dieß ursprünglich auf frivole Weise? Nein. Sie glichen nicht dem Redner Demades in Athen, der, als die Athenienser sich über Demetrius beklagten, daß er von seiner Person mehr Statuen an öffentliche Oerter setzen ließ, als Götterbilder da waren, ihnen gemein genug andeutete: Athenienser, hütet Euch, daß, indem ihr den Himmel vertheidigt, ihr nicht um die Erde gebracht werdet! Die St. Simonisten bezweckten eine Harmonie der geistigen und leiblichen Jnteressen. Ob sie diese zu Stande gebracht haben, läßt sich sehr bezweifeln. Daß aber eine Ausgleichung der physischen und moralischen Ansprüche an die menschliche Existenz zu den großen Problemen unserer Zeit gehört, das werden wohl diejenigen am wenigsten leugnen, welche sich auf ihren Kanzeln gewöhnlich der Wendung bedienen, daß der Gerechte hienieden leiden müsse, um dereinst in größerer Herrlichkeit entschädigt zu werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-09-13T12:39:16Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/244
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/244>, abgerufen am 23.11.2024.