Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.fort, ist mir die Vernachlässigung der Schönheits- und Anstandsgesetze, welche mit den Jdeen dann, wenn sie den Menschen recht zu packen anfangen, verbunden zu seyn pflegt. Die Griechen hatten ihre Schönheit darin, daß sie sich nackt gaben; das Mittelalter darin, daß es sich bunt und phantastisch gab; die Neuern, daß sie sich geordnet geben. Die Symmetrie ist eine der wenigen Tugenden, deren Ausübung unter jetzigen Umständen noch gestattet ist. Wie, Sir, fragt' ich, Sie, ein so aufrichtiger Freund der Wahrheit, könnten sich entschließen, sie zuweilen dem Scheine zu opfern? Sie verstanden mich nicht, entgegnete er; ich nehme nicht den schönen Jrrthum in Schutz, sondern suche nur die häßliche Wahrheit zu mildern. Auch die Wahrheit ist von Natur schön, da sie nackt ist. Alles Nackte ist schön. Allein die Art, wie die Menschen an der Wahrheit zerren, wie sie um jeden Preis das Wahre treffen wollen und es selten anders können, als indem sie nur einen Theil von ihr erreichen oder sie gänzlich entstellen, diese macht sie oft schreckhaft genug. Jch glaube, daß das Moderne diese Stellung zur Wahrheit entschieden verwirft. Modern ist es nicht, dem Parteigeiste zu huldigen, mit ihm sich auf offner Straße zu boxen, die Hemdärmel dabei aufzuschlagen und überhaupt in seinem Thun die möglichste Rücksichtslosigkeit auf sich und Andre zu offenbaren. Das Moderne steht über dem Parteigeiste, über den Tagesfragen wenigstens, die man fort, ist mir die Vernachlässigung der Schönheits- und Anstandsgesetze, welche mit den Jdeen dann, wenn sie den Menschen recht zu packen anfangen, verbunden zu seyn pflegt. Die Griechen hatten ihre Schönheit darin, daß sie sich nackt gaben; das Mittelalter darin, daß es sich bunt und phantastisch gab; die Neuern, daß sie sich geordnet geben. Die Symmetrie ist eine der wenigen Tugenden, deren Ausübung unter jetzigen Umständen noch gestattet ist. Wie, Sir, fragt’ ich, Sie, ein so aufrichtiger Freund der Wahrheit, könnten sich entschließen, sie zuweilen dem Scheine zu opfern? Sie verstanden mich nicht, entgegnete er; ich nehme nicht den schönen Jrrthum in Schutz, sondern suche nur die häßliche Wahrheit zu mildern. Auch die Wahrheit ist von Natur schön, da sie nackt ist. Alles Nackte ist schön. Allein die Art, wie die Menschen an der Wahrheit zerren, wie sie um jeden Preis das Wahre treffen wollen und es selten anders können, als indem sie nur einen Theil von ihr erreichen oder sie gänzlich entstellen, diese macht sie oft schreckhaft genug. Jch glaube, daß das Moderne diese Stellung zur Wahrheit entschieden verwirft. Modern ist es nicht, dem Parteigeiste zu huldigen, mit ihm sich auf offner Straße zu boxen, die Hemdärmel dabei aufzuschlagen und überhaupt in seinem Thun die möglichste Rücksichtslosigkeit auf sich und Andre zu offenbaren. Das Moderne steht über dem Parteigeiste, über den Tagesfragen wenigstens, die man <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0196" n="168"/> fort, ist mir die Vernachlässigung der Schönheits- und Anstandsgesetze, welche mit den Jdeen dann, wenn sie den Menschen recht zu packen anfangen, verbunden zu seyn pflegt. Die Griechen hatten ihre Schönheit darin, daß sie sich nackt gaben; das Mittelalter darin, daß es sich bunt und phantastisch gab; die Neuern, daß sie sich geordnet geben. Die Symmetrie ist eine der wenigen Tugenden, deren Ausübung unter jetzigen Umständen noch gestattet ist.</p> <p>Wie, Sir, fragt’ ich, Sie, ein so aufrichtiger Freund der Wahrheit, könnten sich entschließen, sie zuweilen dem Scheine zu opfern?</p> <p>Sie verstanden mich nicht, entgegnete er; ich nehme nicht den schönen Jrrthum in Schutz, sondern suche nur die häßliche Wahrheit zu mildern. Auch die Wahrheit ist von Natur schön, da sie nackt ist. Alles Nackte ist schön. Allein die Art, wie die Menschen an der Wahrheit zerren, wie sie um jeden Preis das Wahre treffen wollen und es selten anders können, als indem sie nur einen Theil von ihr erreichen oder sie gänzlich entstellen, diese macht sie oft schreckhaft genug. Jch glaube, daß das Moderne diese Stellung zur Wahrheit entschieden verwirft. Modern ist es nicht, dem Parteigeiste zu huldigen, mit ihm sich auf offner Straße zu boxen, die Hemdärmel dabei aufzuschlagen und überhaupt in seinem Thun die möglichste Rücksichtslosigkeit auf sich und Andre zu offenbaren. Das Moderne steht über dem Parteigeiste, über den Tagesfragen wenigstens, die man </p> </div> </body> </text> </TEI> [168/0196]
fort, ist mir die Vernachlässigung der Schönheits- und Anstandsgesetze, welche mit den Jdeen dann, wenn sie den Menschen recht zu packen anfangen, verbunden zu seyn pflegt. Die Griechen hatten ihre Schönheit darin, daß sie sich nackt gaben; das Mittelalter darin, daß es sich bunt und phantastisch gab; die Neuern, daß sie sich geordnet geben. Die Symmetrie ist eine der wenigen Tugenden, deren Ausübung unter jetzigen Umständen noch gestattet ist.
Wie, Sir, fragt’ ich, Sie, ein so aufrichtiger Freund der Wahrheit, könnten sich entschließen, sie zuweilen dem Scheine zu opfern?
Sie verstanden mich nicht, entgegnete er; ich nehme nicht den schönen Jrrthum in Schutz, sondern suche nur die häßliche Wahrheit zu mildern. Auch die Wahrheit ist von Natur schön, da sie nackt ist. Alles Nackte ist schön. Allein die Art, wie die Menschen an der Wahrheit zerren, wie sie um jeden Preis das Wahre treffen wollen und es selten anders können, als indem sie nur einen Theil von ihr erreichen oder sie gänzlich entstellen, diese macht sie oft schreckhaft genug. Jch glaube, daß das Moderne diese Stellung zur Wahrheit entschieden verwirft. Modern ist es nicht, dem Parteigeiste zu huldigen, mit ihm sich auf offner Straße zu boxen, die Hemdärmel dabei aufzuschlagen und überhaupt in seinem Thun die möglichste Rücksichtslosigkeit auf sich und Andre zu offenbaren. Das Moderne steht über dem Parteigeiste, über den Tagesfragen wenigstens, die man
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/196 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/196>, abgerufen am 28.07.2024. |