Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Wir sprechen von Gewissensbissen. Dieß würde der allgemeinen Moral angehören. Aber die Alten waren so unendlich groß, und sie haben niemals Gewissensbisse gehabt. Sophokles und Virgil stehen dem Christenthum nahe genug; allein haben Beide die Reue im Sinne moralischer Umkehr gelehrt? Nirgends! Sie kennen zwar die Furien, die rachefordernden Eumeniden, aber was rächen sie? das gestörte moralische Gleichgewicht der menschlichen Natur? oder das Faktum eines Mordes, das Faktum irgend eines Verbrechens, die Blutsühne der Verwandten? Man braucht nicht tiefer vom Geist des Alterthums berührt zu seyn, um sich für das Letztre zu entscheiden. Oder sprechen wir vom Mittelalter. Die religiöse Jntoleranz desselben; wer möchte sie, selbst wenn sie Scheiterhaufen anzündete und das Schwert der Verfolgung schwang, wer möchte sie als ein allgemein menschliches, als ein moralisches Verbrechen bezeichnen? Der Geist der Zeit trägt eine größre Schuld an den Frevelthaten des Fanatismus, als die, welche nur seine Werkzeuge waren. Nun fragen wir: Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Jndividuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft; kann sie zwischen eine nach allgemeinen Moralgesetzen unzulässige Handlung und den, der sie beging, zwischentreten und einen Theil der Schuld auf sich nehmen? Oder ist Alles schon individuell geworden, Alles abstrakte Sittenlehre, alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Throne Gottes? Jch glaube, das Letztre. Jch glaube, Wir sprechen von Gewissensbissen. Dieß würde der allgemeinen Moral angehören. Aber die Alten waren so unendlich groß, und sie haben niemals Gewissensbisse gehabt. Sophokles und Virgil stehen dem Christenthum nahe genug; allein haben Beide die Reue im Sinne moralischer Umkehr gelehrt? Nirgends! Sie kennen zwar die Furien, die rachefordernden Eumeniden, aber was rächen sie? das gestörte moralische Gleichgewicht der menschlichen Natur? oder das Faktum eines Mordes, das Faktum irgend eines Verbrechens, die Blutsühne der Verwandten? Man braucht nicht tiefer vom Geist des Alterthums berührt zu seyn, um sich für das Letztre zu entscheiden. Oder sprechen wir vom Mittelalter. Die religiöse Jntoleranz desselben; wer möchte sie, selbst wenn sie Scheiterhaufen anzündete und das Schwert der Verfolgung schwang, wer möchte sie als ein allgemein menschliches, als ein moralisches Verbrechen bezeichnen? Der Geist der Zeit trägt eine größre Schuld an den Frevelthaten des Fanatismus, als die, welche nur seine Werkzeuge waren. Nun fragen wir: Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Jndividuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft; kann sie zwischen eine nach allgemeinen Moralgesetzen unzulässige Handlung und den, der sie beging, zwischentreten und einen Theil der Schuld auf sich nehmen? Oder ist Alles schon individuell geworden, Alles abstrakte Sittenlehre, alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Throne Gottes? Jch glaube, das Letztre. Jch glaube, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0190" n="162"/> Wir sprechen von Gewissensbissen. Dieß würde der allgemeinen Moral angehören. Aber die Alten waren so unendlich groß, und sie haben niemals Gewissensbisse gehabt. Sophokles und Virgil stehen dem Christenthum nahe genug; allein haben Beide die Reue im Sinne moralischer Umkehr gelehrt? Nirgends! Sie kennen zwar die Furien, die rachefordernden Eumeniden, aber was rächen sie? das gestörte moralische Gleichgewicht der menschlichen Natur? oder das Faktum eines Mordes, das Faktum irgend eines Verbrechens, die Blutsühne der Verwandten? Man braucht nicht tiefer vom Geist des Alterthums berührt zu seyn, um sich für das Letztre zu entscheiden. Oder sprechen wir vom Mittelalter. Die religiöse Jntoleranz desselben; wer möchte sie, selbst wenn sie Scheiterhaufen anzündete und das Schwert der Verfolgung schwang, wer möchte sie als ein allgemein menschliches, als ein moralisches Verbrechen bezeichnen? Der Geist der Zeit trägt eine größre Schuld an den Frevelthaten des Fanatismus, als die, welche nur seine Werkzeuge waren. Nun fragen wir: Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Jndividuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft; kann sie zwischen eine nach allgemeinen Moralgesetzen unzulässige Handlung und den, der sie beging, zwischentreten und einen Theil der Schuld auf <hi rendition="#g">sich</hi> nehmen? Oder ist Alles schon individuell geworden, Alles abstrakte Sittenlehre, alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Throne Gottes? Jch glaube, das Letztre. Jch glaube, </p> </div> </body> </text> </TEI> [162/0190]
Wir sprechen von Gewissensbissen. Dieß würde der allgemeinen Moral angehören. Aber die Alten waren so unendlich groß, und sie haben niemals Gewissensbisse gehabt. Sophokles und Virgil stehen dem Christenthum nahe genug; allein haben Beide die Reue im Sinne moralischer Umkehr gelehrt? Nirgends! Sie kennen zwar die Furien, die rachefordernden Eumeniden, aber was rächen sie? das gestörte moralische Gleichgewicht der menschlichen Natur? oder das Faktum eines Mordes, das Faktum irgend eines Verbrechens, die Blutsühne der Verwandten? Man braucht nicht tiefer vom Geist des Alterthums berührt zu seyn, um sich für das Letztre zu entscheiden. Oder sprechen wir vom Mittelalter. Die religiöse Jntoleranz desselben; wer möchte sie, selbst wenn sie Scheiterhaufen anzündete und das Schwert der Verfolgung schwang, wer möchte sie als ein allgemein menschliches, als ein moralisches Verbrechen bezeichnen? Der Geist der Zeit trägt eine größre Schuld an den Frevelthaten des Fanatismus, als die, welche nur seine Werkzeuge waren. Nun fragen wir: Hat auch die moderne Welt nichts, das dem Jndividuum einen Theil seiner moralischen Zurechnung tragen hilft; kann sie zwischen eine nach allgemeinen Moralgesetzen unzulässige Handlung und den, der sie beging, zwischentreten und einen Theil der Schuld auf sich nehmen? Oder ist Alles schon individuell geworden, Alles abstrakte Sittenlehre, alles persönliches Risiko und eigene Verantwortung vor dem Throne Gottes? Jch glaube, das Letztre. Jch glaube,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/190 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/190>, abgerufen am 28.07.2024. |