Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Das Zeitalter gleicht ihm jedoch auf ein Haar. Daß zweimal zwei vier gibt, ist durchaus keine unumstößliche Wahrheit mehr in unsern Tagen. Wir werden uns hüten, denken wir, Alles natürlich zu nehmen. Bei uns wird vorausgesetzt, daß jedes Ding zwei Seiten habe, und daß die wahre, einflußreiche die verborgene sey. Diese Subtilität ist von unsern Meinungen auf unsre Sitten und von diesen sogar auf die Künste und Wissenschaften übergegangen. Hat die neuere Gelehrsamkeit nicht die einfachsten Thatsachen verdreht? Welche Conjekturen haben nicht die Geschichtsforschung verdrängt? Die alten Götter und Heroen, deren Thaten sich unserem Gedächtnisse einprägten, haben sich in Collektivnamen für ganze Zeiträume verwandelt. Lykurgus ist sogar nicht einmal mehr jener große Gesetzgeber, dessen Weisheit man den modernen Constitutionsverfassern vorhalten konnte, sondern er ist eine Zusammenfassung von Gesetzen geworden, die Personification einer Zeitperiode. Die Philologie zumal hat sich einer Zweifelsucht hingegeben, die selbst für unsere mißtrauische und ungläubige Zeit noch außerordentlich ist. Homers Jliade ist für eine Allegorie erklärt worden, für ein physikalisches Lehrgedicht, wo die Griechen, glaub' ich, das Eisenoxyd und die Trojaner das Wasserstoffgas repräsentiren sollen. Andre haben den Jnhalt der Odyssee aus der Bibel beweisen wollen; Andere wieder die Bibel aus den unsichern Religionssystemen, welche unsre Missionarien aus Calcutta zurückgebracht haben. Die Das Zeitalter gleicht ihm jedoch auf ein Haar. Daß zweimal zwei vier gibt, ist durchaus keine unumstößliche Wahrheit mehr in unsern Tagen. Wir werden uns hüten, denken wir, Alles natürlich zu nehmen. Bei uns wird vorausgesetzt, daß jedes Ding zwei Seiten habe, und daß die wahre, einflußreiche die verborgene sey. Diese Subtilität ist von unsern Meinungen auf unsre Sitten und von diesen sogar auf die Künste und Wissenschaften übergegangen. Hat die neuere Gelehrsamkeit nicht die einfachsten Thatsachen verdreht? Welche Conjekturen haben nicht die Geschichtsforschung verdrängt? Die alten Götter und Heroen, deren Thaten sich unserem Gedächtnisse einprägten, haben sich in Collektivnamen für ganze Zeiträume verwandelt. Lykurgus ist sogar nicht einmal mehr jener große Gesetzgeber, dessen Weisheit man den modernen Constitutionsverfassern vorhalten konnte, sondern er ist eine Zusammenfassung von Gesetzen geworden, die Personification einer Zeitperiode. Die Philologie zumal hat sich einer Zweifelsucht hingegeben, die selbst für unsere mißtrauische und ungläubige Zeit noch außerordentlich ist. Homers Jliade ist für eine Allegorie erklärt worden, für ein physikalisches Lehrgedicht, wo die Griechen, glaub’ ich, das Eisenoxyd und die Trojaner das Wasserstoffgas repräsentiren sollen. Andre haben den Jnhalt der Odyssee aus der Bibel beweisen wollen; Andere wieder die Bibel aus den unsichern Religionssystemen, welche unsre Missionarien aus Calcutta zurückgebracht haben. Die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0125" n="97"/> <p>Das Zeitalter gleicht ihm jedoch auf ein Haar. Daß zweimal zwei vier gibt, ist durchaus keine unumstößliche Wahrheit mehr in unsern Tagen. Wir werden uns hüten, denken wir, Alles natürlich zu nehmen. Bei uns wird vorausgesetzt, daß jedes Ding zwei Seiten habe, und daß die wahre, einflußreiche die verborgene sey. Diese Subtilität ist von unsern Meinungen auf unsre Sitten und von diesen sogar auf die Künste und Wissenschaften übergegangen. Hat die neuere Gelehrsamkeit nicht die einfachsten Thatsachen verdreht? Welche Conjekturen haben nicht die Geschichtsforschung verdrängt? Die alten Götter und Heroen, deren Thaten sich unserem Gedächtnisse einprägten, haben sich in Collektivnamen für ganze Zeiträume verwandelt. Lykurgus ist sogar nicht einmal mehr jener große Gesetzgeber, dessen Weisheit man den modernen Constitutionsverfassern vorhalten konnte, sondern er ist eine Zusammenfassung von Gesetzen geworden, die Personification einer Zeitperiode. Die Philologie zumal hat sich einer Zweifelsucht hingegeben, die selbst für unsere mißtrauische und ungläubige Zeit noch außerordentlich ist. Homers Jliade ist für eine Allegorie erklärt worden, für ein physikalisches Lehrgedicht, wo die Griechen, glaub’ ich, das Eisenoxyd und die Trojaner das Wasserstoffgas repräsentiren sollen. Andre haben den Jnhalt der Odyssee aus der Bibel beweisen wollen; Andere wieder die Bibel aus den unsichern Religionssystemen, welche unsre Missionarien aus Calcutta zurückgebracht haben. Die </p> </div> </body> </text> </TEI> [97/0125]
Das Zeitalter gleicht ihm jedoch auf ein Haar. Daß zweimal zwei vier gibt, ist durchaus keine unumstößliche Wahrheit mehr in unsern Tagen. Wir werden uns hüten, denken wir, Alles natürlich zu nehmen. Bei uns wird vorausgesetzt, daß jedes Ding zwei Seiten habe, und daß die wahre, einflußreiche die verborgene sey. Diese Subtilität ist von unsern Meinungen auf unsre Sitten und von diesen sogar auf die Künste und Wissenschaften übergegangen. Hat die neuere Gelehrsamkeit nicht die einfachsten Thatsachen verdreht? Welche Conjekturen haben nicht die Geschichtsforschung verdrängt? Die alten Götter und Heroen, deren Thaten sich unserem Gedächtnisse einprägten, haben sich in Collektivnamen für ganze Zeiträume verwandelt. Lykurgus ist sogar nicht einmal mehr jener große Gesetzgeber, dessen Weisheit man den modernen Constitutionsverfassern vorhalten konnte, sondern er ist eine Zusammenfassung von Gesetzen geworden, die Personification einer Zeitperiode. Die Philologie zumal hat sich einer Zweifelsucht hingegeben, die selbst für unsere mißtrauische und ungläubige Zeit noch außerordentlich ist. Homers Jliade ist für eine Allegorie erklärt worden, für ein physikalisches Lehrgedicht, wo die Griechen, glaub’ ich, das Eisenoxyd und die Trojaner das Wasserstoffgas repräsentiren sollen. Andre haben den Jnhalt der Odyssee aus der Bibel beweisen wollen; Andere wieder die Bibel aus den unsichern Religionssystemen, welche unsre Missionarien aus Calcutta zurückgebracht haben. Die
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/125>, abgerufen am 28.07.2024. |