gung des Bluts zu kommen. Sie zählte die zwölf Glockenschläge an der Kirchthurmuhr, sie zählte das Einmaleins her, von vorn und hin¬ ten, deklamirte das einzige Gedicht, welches sie bei ihrem schlechten Gedächtniß auswendig wußte: "Eine kleine Biene flog emsig hin und her, und sog." Nichts half. Da erblickte sie auf dem Tisch die Anordnungen, welche sie neulich ge¬ macht hatte, um an ihre Freundin zu schreiben. Sie ergriff die Feder und schrieb:
"Meine theure Antonie, deine geschmack¬ vollen Muster, das sehr hübsche Diadem, was aber wohl zu meinem Haare nicht stehen wird, auch die englischen Nadeln und die neuen Tou¬ ren zum Cottillon hab' ich erhalten. Ich danke dir, liebe Antonie! Verzeih mir nur -- "
Abscheulich! rief sie aus, und trat an das Fenster. Der Mond beleuchtete hier und dort einen Theil des engen Thales und seiner Um¬ gebungen. Er war mit Wolken bedeckt, die
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gung des Bluts zu kommen. Sie zählte die zwölf Glockenſchläge an der Kirchthurmuhr, ſie zählte das Einmaleins her, von vorn und hin¬ ten, deklamirte das einzige Gedicht, welches ſie bei ihrem ſchlechten Gedächtniß auswendig wußte: „Eine kleine Biene flog emſig hin und her, und ſog.“ Nichts half. Da erblickte ſie auf dem Tiſch die Anordnungen, welche ſie neulich ge¬ macht hatte, um an ihre Freundin zu ſchreiben. Sie ergriff die Feder und ſchrieb:
„Meine theure Antonie, deine geſchmack¬ vollen Muſter, das ſehr hübſche Diadem, was aber wohl zu meinem Haare nicht ſtehen wird, auch die engliſchen Nadeln und die neuen Tou¬ ren zum Cottillon hab' ich erhalten. Ich danke dir, liebe Antonie! Verzeih mir nur — “
Abſcheulich! rief ſie aus, und trat an das Fenſter. Der Mond beleuchtete hier und dort einen Theil des engen Thales und ſeiner Um¬ gebungen. Er war mit Wolken bedeckt, die
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gung des Bluts zu kommen. Sie zählte die
zwölf Glockenſchläge an der Kirchthurmuhr, ſie
zählte das Einmaleins her, von vorn und hin¬
ten, deklamirte das einzige Gedicht, welches ſie
bei ihrem ſchlechten Gedächtniß auswendig wußte:
„Eine kleine Biene flog emſig hin und her, und
ſog.“ Nichts half. Da erblickte ſie auf dem
Tiſch die Anordnungen, welche ſie neulich ge¬
macht hatte, um an ihre Freundin zu ſchreiben.
Sie ergriff die Feder und ſchrieb:
„Meine theure Antonie, deine geſchmack¬
vollen Muſter, das ſehr hübſche Diadem, was
aber wohl zu meinem Haare nicht ſtehen wird,
auch die engliſchen Nadeln und die neuen Tou¬
ren zum Cottillon hab' ich erhalten. Ich danke
dir, liebe Antonie! Verzeih mir nur — “
Abſcheulich! rief ſie aus, und trat an das
Fenſter. Der Mond beleuchtete hier und dort
einen Theil des engen Thales und ſeiner Um¬
gebungen. Er war mit Wolken bedeckt, die
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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/108>, abgerufen am 24.11.2024.
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