Gutzkow, Karl: Die neuen Serapionsbrüder. Bd. 1. Breslau, 1877.ist sie alt und Alles, was an ihr jung erscheint, nur übertüncht und falsch? Sie gehörte zu den Besucherinnen aller Wohlthätigkeits-Bazars, fehlte bei keinem Opernhausball, wurde von den allerhöchsten Herrschaften nie unbeachtet gelassen. Ihr erster Mann hatte sich von unten heraufgearbeitet. Die an sich wohlmeinende Frau war krank, unheilbar krank. Sie verbarg ihren Zustand, theils aus einem den Frauen angebornen Sinn der Verheimlichung ihrer besondern Zustände, die ein edler Heroismus sie still für sich allein tragen läßt, theils aber auch aus Lebenslust und ihrem Gatten, ihrem ehemaligen Hauslehrer, zu Liebe, dem sie äußerlich den Schein nehmen wollte, als hätte er sich nur in eine reiche Wittwenexistenz hineingeheirathet. Martha Ehlerdt, Helenens Freundin, stand mitten inne in diesen psychologischen Erscheinungen. Die Frage der "Speisemarken" stand heute auf der Tagesordnung. Man suchte Mittel, einem förmlichen Börsengeschäft, das mit diesen Anweisungen auf ein Volksküchenmahl getrieben wurde, zu steuern. Die Juden können ihren Gegnern mit Stolz erwidern, daß es sich hier um eine Agiotage handelte, an der sie sich nicht betheiligen. Aber auch die eigentlichen Empfänger der Marken, die Bettler, essen nicht gern aus den Volksküchen, wo, wie sie sagen, die Gemüse nicht verlesen ist sie alt und Alles, was an ihr jung erscheint, nur übertüncht und falsch? Sie gehörte zu den Besucherinnen aller Wohlthätigkeits-Bazars, fehlte bei keinem Opernhausball, wurde von den allerhöchsten Herrschaften nie unbeachtet gelassen. Ihr erster Mann hatte sich von unten heraufgearbeitet. Die an sich wohlmeinende Frau war krank, unheilbar krank. Sie verbarg ihren Zustand, theils aus einem den Frauen angebornen Sinn der Verheimlichung ihrer besondern Zustände, die ein edler Heroismus sie still für sich allein tragen läßt, theils aber auch aus Lebenslust und ihrem Gatten, ihrem ehemaligen Hauslehrer, zu Liebe, dem sie äußerlich den Schein nehmen wollte, als hätte er sich nur in eine reiche Wittwenexistenz hineingeheirathet. Martha Ehlerdt, Helenens Freundin, stand mitten inne in diesen psychologischen Erscheinungen. Die Frage der „Speisemarken“ stand heute auf der Tagesordnung. Man suchte Mittel, einem förmlichen Börsengeschäft, das mit diesen Anweisungen auf ein Volksküchenmahl getrieben wurde, zu steuern. Die Juden können ihren Gegnern mit Stolz erwidern, daß es sich hier um eine Agiotage handelte, an der sie sich nicht betheiligen. Aber auch die eigentlichen Empfänger der Marken, die Bettler, essen nicht gern aus den Volksküchen, wo, wie sie sagen, die Gemüse nicht verlesen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0109" n="103"/> ist sie alt und Alles, was an ihr jung erscheint, nur übertüncht und falsch? Sie gehörte zu den Besucherinnen aller Wohlthätigkeits-Bazars, fehlte bei keinem Opernhausball, wurde von den allerhöchsten Herrschaften nie unbeachtet gelassen. Ihr erster Mann hatte sich von unten heraufgearbeitet. Die an sich wohlmeinende Frau war krank, unheilbar krank. Sie verbarg ihren Zustand, theils aus einem den Frauen angebornen Sinn der Verheimlichung ihrer besondern Zustände, die ein edler Heroismus sie still für sich allein tragen läßt, theils aber auch aus Lebenslust und ihrem Gatten, ihrem ehemaligen Hauslehrer, zu Liebe, dem sie äußerlich den Schein nehmen wollte, als hätte er sich nur in eine reiche Wittwenexistenz hineingeheirathet. Martha Ehlerdt, Helenens Freundin, stand mitten inne in diesen psychologischen Erscheinungen. </p> <p>Die Frage der „<ref xml:id="TEXTSpeisemarken" type="editorialNote" target="NSer2E.htm#ERLSpeisemarken">Speisemarken</ref>“ stand heute auf der Tagesordnung. Man suchte Mittel, einem förmlichen Börsengeschäft, das mit diesen Anweisungen auf ein Volksküchenmahl getrieben wurde, zu steuern. Die Juden können ihren Gegnern mit Stolz erwidern, daß es sich hier um eine <ref xml:id="TEXTAgiotage" type="editorialNote" target="NSer2E.htm#ERLAgiotage">Agiotage</ref> handelte, an der sie sich nicht betheiligen. Aber auch die eigentlichen Empfänger der Marken, die Bettler, essen nicht gern aus den Volksküchen, wo, wie sie sagen, die Gemüse nicht verlesen </p> </div> </body> </text> </TEI> [103/0109]
ist sie alt und Alles, was an ihr jung erscheint, nur übertüncht und falsch? Sie gehörte zu den Besucherinnen aller Wohlthätigkeits-Bazars, fehlte bei keinem Opernhausball, wurde von den allerhöchsten Herrschaften nie unbeachtet gelassen. Ihr erster Mann hatte sich von unten heraufgearbeitet. Die an sich wohlmeinende Frau war krank, unheilbar krank. Sie verbarg ihren Zustand, theils aus einem den Frauen angebornen Sinn der Verheimlichung ihrer besondern Zustände, die ein edler Heroismus sie still für sich allein tragen läßt, theils aber auch aus Lebenslust und ihrem Gatten, ihrem ehemaligen Hauslehrer, zu Liebe, dem sie äußerlich den Schein nehmen wollte, als hätte er sich nur in eine reiche Wittwenexistenz hineingeheirathet. Martha Ehlerdt, Helenens Freundin, stand mitten inne in diesen psychologischen Erscheinungen.
Die Frage der „Speisemarken“ stand heute auf der Tagesordnung. Man suchte Mittel, einem förmlichen Börsengeschäft, das mit diesen Anweisungen auf ein Volksküchenmahl getrieben wurde, zu steuern. Die Juden können ihren Gegnern mit Stolz erwidern, daß es sich hier um eine Agiotage handelte, an der sie sich nicht betheiligen. Aber auch die eigentlichen Empfänger der Marken, die Bettler, essen nicht gern aus den Volksküchen, wo, wie sie sagen, die Gemüse nicht verlesen
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die neuen Serapionsbrüder. Bd. 1. Breslau, 1877, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_serapionsbrueder01_1877/109>, abgerufen am 16.07.2024. |