[Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.nisse bleibt einer allgemeinen, von dermaligem Staatsverbande unabhängigen Welt- und Geschichtsansicht unterworfen. Je mehr die religiöse Stimmung unserer Zeit über das bloße Bedürfniß des Glaubens hinausgeht, und eine bestimmte Ansicht über Christenthum als eine Thatsache anerkannt wissen will, je stärker sich früher in Preußen die Meinung befestigt hatte, der Thron könne in Religionsangelegenheiten mehr sein, als eine schützende Macht, er könne auch entscheiden, desto einseitiger mußte sich nach der Erklärung, die Regierung lasse Jeden schaffen, wie er wolle, das Interesse der Partei auf sich selbst zurückziehen, und gegen den Schutz, der ihr von oben gleichgültig gewährt wird, selbst immer gleichgültiger werden. Der preußische Staat ist durch die Chancer dieser Zeit gezwungen, dem Zuge des alltäglichen Treibens zu folgen. Er ist verurtheilt, mit eigner Hand das poetische Gewand, in das er sich durch sonderbare Zufälle hüllen konnte, zu zerreißen. Du befürchtest, ich würde mich noch einst zum Schirmvogt der Pietisten aufwerfen; aber Folgendes belehre Dich, daß ich meinen Kopf denken, nicht hängen lasse! Die Liebe darf einen Rechtgläubigen noch nicht bewegen, sich mit zwei oder drei oder meh- nisse bleibt einer allgemeinen, von dermaligem Staatsverbande unabhängigen Welt- und Geschichtsansicht unterworfen. Je mehr die religiöse Stimmung unserer Zeit über das bloße Bedürfniß des Glaubens hinausgeht, und eine bestimmte Ansicht über Christenthum als eine Thatsache anerkannt wissen will, je stärker sich früher in Preußen die Meinung befestigt hatte, der Thron könne in Religionsangelegenheiten mehr sein, als eine schützende Macht, er könne auch entscheiden, desto einseitiger mußte sich nach der Erklärung, die Regierung lasse Jeden schaffen, wie er wolle, das Interesse der Partei auf sich selbst zurückziehen, und gegen den Schutz, der ihr von oben gleichgültig gewährt wird, selbst immer gleichgültiger werden. Der preußische Staat ist durch die Chancer dieser Zeit gezwungen, dem Zuge des alltäglichen Treibens zu folgen. Er ist verurtheilt, mit eigner Hand das poetische Gewand, in das er sich durch sonderbare Zufälle hüllen konnte, zu zerreißen. Du befürchtest, ich würde mich noch einst zum Schirmvogt der Pietisten aufwerfen; aber Folgendes belehre Dich, daß ich meinen Kopf denken, nicht hängen lasse! Die Liebe darf einen Rechtgläubigen noch nicht bewegen, sich mit zwei oder drei oder meh- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0049" n="36"/> nisse bleibt einer allgemeinen, von dermaligem Staatsverbande unabhängigen Welt- und Geschichtsansicht unterworfen. Je mehr die religiöse Stimmung unserer Zeit über das bloße Bedürfniß des Glaubens hinausgeht, und eine bestimmte Ansicht über Christenthum als eine Thatsache anerkannt wissen will, je stärker sich früher in Preußen die Meinung befestigt hatte, der Thron könne in Religionsangelegenheiten mehr sein, als eine schützende Macht, er könne auch entscheiden, desto einseitiger mußte sich nach der Erklärung, die Regierung lasse Jeden schaffen, wie er wolle, das Interesse der Partei auf sich selbst zurückziehen, und gegen den Schutz, der ihr von oben gleichgültig gewährt wird, selbst immer gleichgültiger werden. Der preußische Staat ist durch die <ref xml:id="TEXTChancer" target="BrN3E.htm#ERLChancer">Chancer</ref> dieser Zeit gezwungen, dem Zuge des alltäglichen Treibens zu folgen. Er ist verurtheilt, mit eigner Hand das poetische Gewand, in das er sich durch sonderbare Zufälle hüllen konnte, zu zerreißen.</p> <p>Du befürchtest, ich würde mich noch einst zum Schirmvogt der Pietisten aufwerfen; aber Folgendes belehre Dich, daß ich meinen Kopf denken, nicht hängen lasse!</p> <p>Die Liebe darf einen Rechtgläubigen noch nicht bewegen, sich mit zwei oder drei oder meh- </p> </div> </body> </text> </TEI> [36/0049]
nisse bleibt einer allgemeinen, von dermaligem Staatsverbande unabhängigen Welt- und Geschichtsansicht unterworfen. Je mehr die religiöse Stimmung unserer Zeit über das bloße Bedürfniß des Glaubens hinausgeht, und eine bestimmte Ansicht über Christenthum als eine Thatsache anerkannt wissen will, je stärker sich früher in Preußen die Meinung befestigt hatte, der Thron könne in Religionsangelegenheiten mehr sein, als eine schützende Macht, er könne auch entscheiden, desto einseitiger mußte sich nach der Erklärung, die Regierung lasse Jeden schaffen, wie er wolle, das Interesse der Partei auf sich selbst zurückziehen, und gegen den Schutz, der ihr von oben gleichgültig gewährt wird, selbst immer gleichgültiger werden. Der preußische Staat ist durch die Chancer dieser Zeit gezwungen, dem Zuge des alltäglichen Treibens zu folgen. Er ist verurtheilt, mit eigner Hand das poetische Gewand, in das er sich durch sonderbare Zufälle hüllen konnte, zu zerreißen.
Du befürchtest, ich würde mich noch einst zum Schirmvogt der Pietisten aufwerfen; aber Folgendes belehre Dich, daß ich meinen Kopf denken, nicht hängen lasse!
Die Liebe darf einen Rechtgläubigen noch nicht bewegen, sich mit zwei oder drei oder meh-
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