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[Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.

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lassen. Darum werden wir noch lange in dem Truggewebe eines gegenseitigen Vertrages, nichts verrathen zu wollen, fortleben müssen. Ich kann nicht zwei Schritt auf der Straße gehen, so seh' ich auf allen Gesichtern ein Siegel, das uns jedes Wort des Lehrers, jede Prüfung eines Obern, jede Einführung in ein neues Amt zur Erinnerung an das Gelübde ewiger Verschwiegenheit aufgedrückt hat. Recht und Unrecht, Leben und Tod sind auf diesen Grundvertrag aufgeführt. Alles ist verabredet, bis auf den Wink, den der Fürst dem nachrichtenden Henker gibt.

O ja, man hat sich mit dem Suchen der Wahrheit beschäftigt, dabei aber egoistisch genug nur an die Uebung seiner Geisteskräfte gedacht; wie Lessing, wenn ihm die Wahl frei stände zwischen der Wahrheit und dem Streben nach ihr, lieber das letzte wollte. Noch mehr, man hat wirklich eine Formel, einen Zauberspruch gefunden. Wer besaß nun aber jenen Lebenshauch, daß sich die Buchstaben solcher Formeln zu dehnen und zu bewegen anfingen, lebendig wurden, immer größer und natürlicher, bis sie zuletzt als Thaten selbst das schwächste Gemüth fassen konnten? Und dies lebendige Eingreifen in die bewegten Räume der Wirklichkeit ist so sehr immer das Wahrere, daß ich, wenn ich in den Himmel Deiner Augen

lassen. Darum werden wir noch lange in dem Truggewebe eines gegenseitigen Vertrages, nichts verrathen zu wollen, fortleben müssen. Ich kann nicht zwei Schritt auf der Straße gehen, so seh’ ich auf allen Gesichtern ein Siegel, das uns jedes Wort des Lehrers, jede Prüfung eines Obern, jede Einführung in ein neues Amt zur Erinnerung an das Gelübde ewiger Verschwiegenheit aufgedrückt hat. Recht und Unrecht, Leben und Tod sind auf diesen Grundvertrag aufgeführt. Alles ist verabredet, bis auf den Wink, den der Fürst dem nachrichtenden Henker gibt.

O ja, man hat sich mit dem Suchen der Wahrheit beschäftigt, dabei aber egoistisch genug nur an die Uebung seiner Geisteskräfte gedacht; wie Lessing, wenn ihm die Wahl frei stände zwischen der Wahrheit und dem Streben nach ihr, lieber das letzte wollte. Noch mehr, man hat wirklich eine Formel, einen Zauberspruch gefunden. Wer besaß nun aber jenen Lebenshauch, daß sich die Buchstaben solcher Formeln zu dehnen und zu bewegen anfingen, lebendig wurden, immer größer und natürlicher, bis sie zuletzt als Thaten selbst das schwächste Gemüth fassen konnten? Und dies lebendige Eingreifen in die bewegten Räume der Wirklichkeit ist so sehr immer das Wahrere, daß ich, wenn ich in den Himmel Deiner Augen

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[129/0142] lassen. Darum werden wir noch lange in dem Truggewebe eines gegenseitigen Vertrages, nichts verrathen zu wollen, fortleben müssen. Ich kann nicht zwei Schritt auf der Straße gehen, so seh’ ich auf allen Gesichtern ein Siegel, das uns jedes Wort des Lehrers, jede Prüfung eines Obern, jede Einführung in ein neues Amt zur Erinnerung an das Gelübde ewiger Verschwiegenheit aufgedrückt hat. Recht und Unrecht, Leben und Tod sind auf diesen Grundvertrag aufgeführt. Alles ist verabredet, bis auf den Wink, den der Fürst dem nachrichtenden Henker gibt. O ja, man hat sich mit dem Suchen der Wahrheit beschäftigt, dabei aber egoistisch genug nur an die Uebung seiner Geisteskräfte gedacht; wie Lessing, wenn ihm die Wahl frei stände zwischen der Wahrheit und dem Streben nach ihr, lieber das letzte wollte. Noch mehr, man hat wirklich eine Formel, einen Zauberspruch gefunden. Wer besaß nun aber jenen Lebenshauch, daß sich die Buchstaben solcher Formeln zu dehnen und zu bewegen anfingen, lebendig wurden, immer größer und natürlicher, bis sie zuletzt als Thaten selbst das schwächste Gemüth fassen konnten? Und dies lebendige Eingreifen in die bewegten Räume der Wirklichkeit ist so sehr immer das Wahrere, daß ich, wenn ich in den Himmel Deiner Augen

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Zitationshilfe: [Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832/142>, abgerufen am 22.11.2024.