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Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835.

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Chateaubriand.
selbst nach seinen neusten Unfällen schon in die Zeit
zurechtgefunden hat. Fordre er keine neue Kollision her¬
aus; sie würde ihn unfehlbar in Versuchung führen.
Chateaubriand hat kein Geschick für die Geschichte.
Goethe wollte seine Zeit nicht verstehen; Chateaubriand
verstand sie wirklich nicht.

Die Freunde des edeln Vicomte übertrieben; unter
Andern neulich der gutmüthige, oft kindische Plauderer
Jules Janin, welcher eine Parallele zwischen ihm und
Talleyrand zieht. Sie möchten, wie sie sich ausdrücken,
ein Epos der Ueberzeugung aus ihm machen, während
er doch in diesem Falle nichts ist, als eine Tragikomö¬
die derselben, ein Roman, zusammengesetzt aus Ge¬
lächter und Thränen.

Wo ist hier der heilige Schauer, der um das
Unglück eines großen Mannes weht? Wo sind die
Schlangen, die er schon in seiner Wiege erdrückte?
Welche greise Seherin hat die Hand auf sein Haupt
gelegt und in ihm den künftigen Propheten gesegnet?
Wie schwer wiegen wohl die Schilde, die er aus sei¬
nen ersten Kämpfen mit der Welt heimbrachte?

Dieser Maaßstab paßt hier nicht; Chateaubriand
kömmt erst nach seinem dreißigsten Jahre zu einer Idee,
zu einer Idee, die er unter dem Sattel des Pegasus

Chateaubriand.
ſelbſt nach ſeinen neuſten Unfaͤllen ſchon in die Zeit
zurechtgefunden hat. Fordre er keine neue Kolliſion her¬
aus; ſie wuͤrde ihn unfehlbar in Verſuchung fuͤhren.
Chateaubriand hat kein Geſchick fuͤr die Geſchichte.
Goethe wollte ſeine Zeit nicht verſtehen; Chateaubriand
verſtand ſie wirklich nicht.

Die Freunde des edeln Vicomte uͤbertrieben; unter
Andern neulich der gutmuͤthige, oft kindiſche Plauderer
Jules Janin, welcher eine Parallele zwiſchen ihm und
Talleyrand zieht. Sie moͤchten, wie ſie ſich ausdruͤcken,
ein Epos der Ueberzeugung aus ihm machen, waͤhrend
er doch in dieſem Falle nichts iſt, als eine Tragikomoͤ¬
die derſelben, ein Roman, zuſammengeſetzt aus Ge¬
laͤchter und Thraͤnen.

Wo iſt hier der heilige Schauer, der um das
Ungluͤck eines großen Mannes weht? Wo ſind die
Schlangen, die er ſchon in ſeiner Wiege erdruͤckte?
Welche greiſe Seherin hat die Hand auf ſein Haupt
gelegt und in ihm den kuͤnftigen Propheten geſegnet?
Wie ſchwer wiegen wohl die Schilde, die er aus ſei¬
nen erſten Kaͤmpfen mit der Welt heimbrachte?

Dieſer Maaßſtab paßt hier nicht; Chateaubriand
koͤmmt erſt nach ſeinem dreißigſten Jahre zu einer Idee,
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[61/0079] Chateaubriand. ſelbſt nach ſeinen neuſten Unfaͤllen ſchon in die Zeit zurechtgefunden hat. Fordre er keine neue Kolliſion her¬ aus; ſie wuͤrde ihn unfehlbar in Verſuchung fuͤhren. Chateaubriand hat kein Geſchick fuͤr die Geſchichte. Goethe wollte ſeine Zeit nicht verſtehen; Chateaubriand verſtand ſie wirklich nicht. Die Freunde des edeln Vicomte uͤbertrieben; unter Andern neulich der gutmuͤthige, oft kindiſche Plauderer Jules Janin, welcher eine Parallele zwiſchen ihm und Talleyrand zieht. Sie moͤchten, wie ſie ſich ausdruͤcken, ein Epos der Ueberzeugung aus ihm machen, waͤhrend er doch in dieſem Falle nichts iſt, als eine Tragikomoͤ¬ die derſelben, ein Roman, zuſammengeſetzt aus Ge¬ laͤchter und Thraͤnen. Wo iſt hier der heilige Schauer, der um das Ungluͤck eines großen Mannes weht? Wo ſind die Schlangen, die er ſchon in ſeiner Wiege erdruͤckte? Welche greiſe Seherin hat die Hand auf ſein Haupt gelegt und in ihm den kuͤnftigen Propheten geſegnet? Wie ſchwer wiegen wohl die Schilde, die er aus ſei¬ nen erſten Kaͤmpfen mit der Welt heimbrachte? Dieſer Maaßſtab paßt hier nicht; Chateaubriand koͤmmt erſt nach ſeinem dreißigſten Jahre zu einer Idee, zu einer Idee, die er unter dem Sattel des Pegaſus

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_charaktere_1835/79>, abgerufen am 22.11.2024.