Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835.Talleyrand. worden. Er brauchte ein Terrain, das großartig genugwar, um sowohl Partei als die Flucht ergreifen zu können. Dies großartige Terrain aber überkam er, es war eine Erbschaft des Augenblicks an den Augenblick. Talleyrand war ein kluger Mann, er wußte es zu be¬ nutzen. Talleyrands sechs Meineide wird man vielleicht verzeihlich finden unter seinen Umständen; aber ein gro¬ ßer Charakter wäre nie in die Verlegenheit gerathen, sie schwören zu müssen. Eine besondere Weltanschau¬ ung blickt aus den aufgezählten Schicksalen nicht her¬ vor, wohl aber eine Reihe einzelner Maximen, die sich immer an ihrem Orte erproben konnten. Talleyrand philosophirte über die Begebenheiten, über die natürliche Schwäche des menschlichen Herzens, weniger über die Moral. Das Gewissen verwarf er nicht; doch galt es bei ihm nur gewissermaßen. Er sog das Mark seiner Umgebungen aus, er absorbirte Entschlüsse, Interessen, Besorgnisse, selbst den Verstand der Außenwelt und verwandte Alles zu seinem Gewinn. Talleyrand nannte nicht Alles Betrug, was mit einer Nichteinlösung ei¬ nes gegebenen Wortes endete. Er brachte die Absicht des Gegners in Anschlag, und wußte, daß Einer von des Andern Leben zehre. Warum denen Wort halten, philosophirte er, die jeden Augenblick bereit sind, dich Talleyrand. worden. Er brauchte ein Terrain, das großartig genugwar, um ſowohl Partei als die Flucht ergreifen zu koͤnnen. Dies großartige Terrain aber uͤberkam er, es war eine Erbſchaft des Augenblicks an den Augenblick. Talleyrand war ein kluger Mann, er wußte es zu be¬ nutzen. Talleyrands ſechs Meineide wird man vielleicht verzeihlich finden unter ſeinen Umſtaͤnden; aber ein gro¬ ßer Charakter waͤre nie in die Verlegenheit gerathen, ſie ſchwoͤren zu muͤſſen. Eine beſondere Weltanſchau¬ ung blickt aus den aufgezaͤhlten Schickſalen nicht her¬ vor, wohl aber eine Reihe einzelner Maximen, die ſich immer an ihrem Orte erproben konnten. Talleyrand philoſophirte uͤber die Begebenheiten, uͤber die natuͤrliche Schwaͤche des menſchlichen Herzens, weniger uͤber die Moral. Das Gewiſſen verwarf er nicht; doch galt es bei ihm nur gewiſſermaßen. Er ſog das Mark ſeiner Umgebungen aus, er abſorbirte Entſchluͤſſe, Intereſſen, Beſorgniſſe, ſelbſt den Verſtand der Außenwelt und verwandte Alles zu ſeinem Gewinn. Talleyrand nannte nicht Alles Betrug, was mit einer Nichteinloͤſung ei¬ nes gegebenen Wortes endete. Er brachte die Abſicht des Gegners in Anſchlag, und wußte, daß Einer von des Andern Leben zehre. Warum denen Wort halten, philoſophirte er, die jeden Augenblick bereit ſind, dich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0036" n="18"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Talleyrand</hi>.<lb/></fw> worden. Er brauchte ein Terrain, das großartig genug<lb/> war, um ſowohl Partei als die Flucht ergreifen zu<lb/> koͤnnen. Dies großartige Terrain aber uͤberkam er, es<lb/> war eine Erbſchaft des Augenblicks an den Augenblick.<lb/> Talleyrand war ein kluger Mann, er wußte es zu be¬<lb/> nutzen. Talleyrands ſechs Meineide wird man vielleicht<lb/> verzeihlich finden unter ſeinen Umſtaͤnden; aber ein gro¬<lb/> ßer Charakter waͤre nie in die Verlegenheit gerathen,<lb/> ſie ſchwoͤren zu muͤſſen. Eine beſondere Weltanſchau¬<lb/> ung blickt aus den aufgezaͤhlten Schickſalen nicht her¬<lb/> vor, wohl aber eine Reihe einzelner Maximen, die ſich<lb/> immer an ihrem Orte erproben konnten. Talleyrand<lb/> philoſophirte uͤber die Begebenheiten, uͤber die natuͤrliche<lb/> Schwaͤche des menſchlichen Herzens, weniger uͤber die<lb/> Moral. Das Gewiſſen verwarf er nicht; doch galt es<lb/> bei ihm nur gewiſſermaßen. Er ſog das Mark ſeiner<lb/> Umgebungen aus, er abſorbirte Entſchluͤſſe, Intereſſen,<lb/> Beſorgniſſe, ſelbſt den Verſtand der Außenwelt und<lb/> verwandte Alles zu ſeinem Gewinn. Talleyrand nannte<lb/> nicht Alles Betrug, was mit einer Nichteinloͤſung ei¬<lb/> nes gegebenen Wortes endete. Er brachte die Abſicht<lb/> des Gegners in Anſchlag, und wußte, daß Einer von<lb/> des Andern Leben zehre. Warum denen Wort halten,<lb/> philoſophirte er, die jeden Augenblick bereit ſind, dich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [18/0036]
Talleyrand.
worden. Er brauchte ein Terrain, das großartig genug
war, um ſowohl Partei als die Flucht ergreifen zu
koͤnnen. Dies großartige Terrain aber uͤberkam er, es
war eine Erbſchaft des Augenblicks an den Augenblick.
Talleyrand war ein kluger Mann, er wußte es zu be¬
nutzen. Talleyrands ſechs Meineide wird man vielleicht
verzeihlich finden unter ſeinen Umſtaͤnden; aber ein gro¬
ßer Charakter waͤre nie in die Verlegenheit gerathen,
ſie ſchwoͤren zu muͤſſen. Eine beſondere Weltanſchau¬
ung blickt aus den aufgezaͤhlten Schickſalen nicht her¬
vor, wohl aber eine Reihe einzelner Maximen, die ſich
immer an ihrem Orte erproben konnten. Talleyrand
philoſophirte uͤber die Begebenheiten, uͤber die natuͤrliche
Schwaͤche des menſchlichen Herzens, weniger uͤber die
Moral. Das Gewiſſen verwarf er nicht; doch galt es
bei ihm nur gewiſſermaßen. Er ſog das Mark ſeiner
Umgebungen aus, er abſorbirte Entſchluͤſſe, Intereſſen,
Beſorgniſſe, ſelbſt den Verſtand der Außenwelt und
verwandte Alles zu ſeinem Gewinn. Talleyrand nannte
nicht Alles Betrug, was mit einer Nichteinloͤſung ei¬
nes gegebenen Wortes endete. Er brachte die Abſicht
des Gegners in Anſchlag, und wußte, daß Einer von
des Andern Leben zehre. Warum denen Wort halten,
philoſophirte er, die jeden Augenblick bereit ſind, dich
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_charaktere_1835/36>, abgerufen am 28.07.2024. |