Es ist eine bekannte Wahrheit, dass der unser Freund sey, welcher uns unsre Fehler aufdeckt; leider ist sie aber nie recht Mode gewesen. Viel- leicht ist die Jugend dafür empfänglicher; we- nigstens meine ich es recht gut, indem ich ihr folgendes Spiel mittheile, das zwar schon ziem- lich bekannt ist, aber hier etwas umgearbeitet erscheint. Man theilt jedem von der Gesell- schaft ein Octavblatt Papier mit, worauf er oben seinen Namen als Ueberschrift sezt, dann rollt jeder diess Blatt zusammen und wirft es, wie beym Losen, in ein Behältniss. Ist diess gesche- hen, so zieht nun jeder ein Blatt heraus und schreibt unter den Namen etwas über die Per- son, die er gezogen hat, nieder. Diess et- was ist Tadel, entweder den körperlichen An- stand im weitsten Sinne, oder das Verhalten der Person betreffend, wie man das nun vorher aus gemacht hat. -- Gebrechen des Körpers oder des Geistes können als unwillkührliche Gegenstän- de, wie sichs von selbst versteht, dem Tadel nie mit unterworfen werden. -- Hat jeder seinen kurzen Satz plan oder witzig, prosaisch oder poetisch, doch immer mit Humanität und An-
66. Die Freunde, oder der Wahrheitsſpiegel.
Es iſt eine bekannte Wahrheit, daſs der unſer Freund ſey, welcher uns unſre Fehler aufdeckt; leider iſt ſie aber nie recht Mode geweſen. Viel- leicht iſt die Jugend dafür empfänglicher; we- nigſtens meine ich es recht gut, indem ich ihr folgendes Spiel mittheile, das zwar ſchon ziem- lich bekannt iſt, aber hier etwas umgearbeitet erſcheint. Man theilt jedem von der Geſell- ſchaft ein Octavblatt Papier mit, worauf er oben ſeinen Namen als Ueberſchrift ſezt, dann rollt jeder dieſs Blatt zuſammen und wirft es, wie beym Loſen, in ein Behältniſs. Iſt dieſs geſche- hen, ſo zieht nun jeder ein Blatt heraus und ſchreibt unter den Namen etwas über die Per- ſon, die er gezogen hat, nieder. Dieſs et- was iſt Tadel, entweder den körperlichen An- ſtand im weitſten Sinne, oder das Verhalten der Perſon betreffend, wie man das nun vorher aus gemacht hat. — Gebrechen des Körpers oder des Geiſtes können als unwillkührliche Gegenſtän- de, wie ſichs von ſelbſt verſteht, dem Tadel nie mit unterworfen werden. — Hat jeder ſeinen kurzen Satz plan oder witzig, proſaiſch oder poëtiſch, doch immer mit Humanität und An-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0334"n="302"/><divn="4"><head>66. Die Freunde,<lb/>
oder<lb/><hirendition="#g">der Wahrheitsſpiegel</hi>.</head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>s iſt eine bekannte Wahrheit, daſs der unſer<lb/>
Freund ſey, welcher uns unſre Fehler aufdeckt;<lb/>
leider iſt ſie aber nie recht Mode geweſen. Viel-<lb/>
leicht iſt die Jugend dafür empfänglicher; we-<lb/>
nigſtens meine ich es recht gut, indem ich ihr<lb/>
folgendes Spiel mittheile, das zwar ſchon ziem-<lb/>
lich bekannt iſt, aber hier etwas umgearbeitet<lb/>
erſcheint. Man theilt jedem von der Geſell-<lb/>ſchaft ein Octavblatt Papier mit, worauf er oben<lb/>ſeinen Namen als Ueberſchrift ſezt, dann rollt<lb/>
jeder dieſs Blatt zuſammen und wirft es, wie<lb/>
beym Loſen, in ein Behältniſs. Iſt dieſs geſche-<lb/>
hen, ſo zieht nun jeder ein Blatt heraus und<lb/>ſchreibt unter den Namen etwas über die Per-<lb/>ſon, die er gezogen hat, nieder. Dieſs et-<lb/>
was iſt Tadel, entweder den körperlichen An-<lb/>ſtand im weitſten Sinne, oder das Verhalten der<lb/>
Perſon betreffend, wie man das nun vorher aus<lb/>
gemacht hat. — Gebrechen des Körpers oder des<lb/>
Geiſtes können als unwillkührliche Gegenſtän-<lb/>
de, wie ſichs von ſelbſt verſteht, dem Tadel nie<lb/>
mit unterworfen werden. — Hat jeder ſeinen<lb/>
kurzen Satz plan oder witzig, proſaiſch oder<lb/>
poëtiſch, doch immer mit Humanität und An-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[302/0334]
66. Die Freunde,
oder
der Wahrheitsſpiegel.
Es iſt eine bekannte Wahrheit, daſs der unſer
Freund ſey, welcher uns unſre Fehler aufdeckt;
leider iſt ſie aber nie recht Mode geweſen. Viel-
leicht iſt die Jugend dafür empfänglicher; we-
nigſtens meine ich es recht gut, indem ich ihr
folgendes Spiel mittheile, das zwar ſchon ziem-
lich bekannt iſt, aber hier etwas umgearbeitet
erſcheint. Man theilt jedem von der Geſell-
ſchaft ein Octavblatt Papier mit, worauf er oben
ſeinen Namen als Ueberſchrift ſezt, dann rollt
jeder dieſs Blatt zuſammen und wirft es, wie
beym Loſen, in ein Behältniſs. Iſt dieſs geſche-
hen, ſo zieht nun jeder ein Blatt heraus und
ſchreibt unter den Namen etwas über die Per-
ſon, die er gezogen hat, nieder. Dieſs et-
was iſt Tadel, entweder den körperlichen An-
ſtand im weitſten Sinne, oder das Verhalten der
Perſon betreffend, wie man das nun vorher aus
gemacht hat. — Gebrechen des Körpers oder des
Geiſtes können als unwillkührliche Gegenſtän-
de, wie ſichs von ſelbſt verſteht, dem Tadel nie
mit unterworfen werden. — Hat jeder ſeinen
kurzen Satz plan oder witzig, proſaiſch oder
poëtiſch, doch immer mit Humanität und An-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Guts Muths, Johann Christoph Friedrich: Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und Geistes. Schnepfenthal, 1796, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutsmuths_spiele_1796/334>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.