zu geschehen pflegen. Auf die Völker selbst lassen sich diese, wie Ickstatt a] ganz richtig erinnert, eigentlich zwar wohl nicht anwenden, weil dergleichen moralische Personen erst mit völliger Auflösung ihres ganzen gesel- schaftlichen Bandes ein Ende nehmen; da aber in mon- archischen Staaten die Regierung nur durch eine ein- zige Person besorgt und die ganze Nazion durch den Regenten dargestelt wird, nach dessen Tode, durch Wahl oder Erbfolge, iedesmal ein anderer eintreten muß, so kann dieser Fall, wie ich schon bemerkt habe, öfter eine Gelegenheit zum Landeserwerb für andere Nazionen werden.
Es ist freilich unter den Natur- und Völkerrechts- lehrern eine annoch unentschiedene Frage: ob die Natur selbst gewissen Personen überhaupt oder wenigstens denen, welche der Verstorbene ernannt hat, ein vor- zügliches Recht auf dessen hinterlassene Güter zugestehe? b] Mit dem Tode, sagen viele, hört im Naturstande das Eigenthum auf, die Güter des Verstorbenen werden, weil sie iedem nur zu Befriedigung seiner eignen Be- dürfnisse von der Natur eingeräumt waren, wieder herrnlos, so daß sie, ohne Auswahl, von dem ersten Besitzergreifer wieder eigen gemacht werden können. Im ursprünglich natürlichen Zustande, den man sich ohne eheliche und alle andere geselschaftliche Verbindung folglich ohne Kinder, Verwandten etc. denkt, c] hat diese Behauptung alsdenn allerdings seine Richtigkeit, wenn iemand ohne seinen Willen zu erklären verstirbt.
Grotius glaubt hingegen mit andern d] es sey, was der Fall anlanget, da der Besitzer ohne einen Nachfol- ger zu ernennen [ab intestato] verstorben, nicht zu vermuthen, daß er seine Güter nach dem Tode habe Preis geben, sondern wahrscheinlicher, daß er sie denen, welchen er die meiste Liebe schuldig, z. B. seinen Kin- dern, Verwandten etc. habe lassen wollen; zumal da
aus
G 3
oder den abgeleiteten Erwerbungsarten.
zu geſchehen pflegen. Auf die Voͤlker ſelbſt laſſen ſich dieſe, wie Ickſtatt a] ganz richtig erinnert, eigentlich zwar wohl nicht anwenden, weil dergleichen moraliſche Perſonen erſt mit voͤlliger Aufloͤſung ihres ganzen geſel- ſchaftlichen Bandes ein Ende nehmen; da aber in mon- archiſchen Staaten die Regierung nur durch eine ein- zige Perſon beſorgt und die ganze Nazion durch den Regenten dargeſtelt wird, nach deſſen Tode, durch Wahl oder Erbfolge, iedesmal ein anderer eintreten muß, ſo kann dieſer Fall, wie ich ſchon bemerkt habe, oͤfter eine Gelegenheit zum Landeserwerb fuͤr andere Nazionen werden.
Es iſt freilich unter den Natur- und Voͤlkerrechts- lehrern eine annoch unentſchiedene Frage: ob die Natur ſelbſt gewiſſen Perſonen uͤberhaupt oder wenigſtens denen, welche der Verſtorbene ernannt hat, ein vor- zuͤgliches Recht auf deſſen hinterlaſſene Guͤter zugeſtehe? b] Mit dem Tode, ſagen viele, hoͤrt im Naturſtande das Eigenthum auf, die Guͤter des Verſtorbenen werden, weil ſie iedem nur zu Befriedigung ſeiner eignen Be- duͤrfniſſe von der Natur eingeraͤumt waren, wieder herrnlos, ſo daß ſie, ohne Auswahl, von dem erſten Beſitzergreifer wieder eigen gemacht werden koͤnnen. Im urſpruͤnglich natuͤrlichen Zuſtande, den man ſich ohne eheliche und alle andere geſelſchaftliche Verbindung folglich ohne Kinder, Verwandten ꝛc. denkt, c] hat dieſe Behauptung alsdenn allerdings ſeine Richtigkeit, wenn iemand ohne ſeinen Willen zu erklaͤren verſtirbt.
Grotius glaubt hingegen mit andern d] es ſey, was der Fall anlanget, da der Beſitzer ohne einen Nachfol- ger zu ernennen [ab inteſtato] verſtorben, nicht zu vermuthen, daß er ſeine Guͤter nach dem Tode habe Preis geben, ſondern wahrſcheinlicher, daß er ſie denen, welchen er die meiſte Liebe ſchuldig, z. B. ſeinen Kin- dern, Verwandten ꝛc. habe laſſen wollen; zumal da
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oder den abgeleiteten Erwerbungsarten.
zu geſchehen pflegen. Auf die Voͤlker ſelbſt laſſen ſich
dieſe, wie Ickſtatt a] ganz richtig erinnert, eigentlich
zwar wohl nicht anwenden, weil dergleichen moraliſche
Perſonen erſt mit voͤlliger Aufloͤſung ihres ganzen geſel-
ſchaftlichen Bandes ein Ende nehmen; da aber in mon-
archiſchen Staaten die Regierung nur durch eine ein-
zige Perſon beſorgt und die ganze Nazion durch den
Regenten dargeſtelt wird, nach deſſen Tode, durch
Wahl oder Erbfolge, iedesmal ein anderer eintreten
muß, ſo kann dieſer Fall, wie ich ſchon bemerkt habe,
oͤfter eine Gelegenheit zum Landeserwerb fuͤr andere
Nazionen werden.
Es iſt freilich unter den Natur- und Voͤlkerrechts-
lehrern eine annoch unentſchiedene Frage: ob die Natur
ſelbſt gewiſſen Perſonen uͤberhaupt oder wenigſtens
denen, welche der Verſtorbene ernannt hat, ein vor-
zuͤgliches Recht auf deſſen hinterlaſſene Guͤter zugeſtehe? b]
Mit dem Tode, ſagen viele, hoͤrt im Naturſtande das
Eigenthum auf, die Guͤter des Verſtorbenen werden,
weil ſie iedem nur zu Befriedigung ſeiner eignen Be-
duͤrfniſſe von der Natur eingeraͤumt waren, wieder
herrnlos, ſo daß ſie, ohne Auswahl, von dem erſten
Beſitzergreifer wieder eigen gemacht werden koͤnnen.
Im urſpruͤnglich natuͤrlichen Zuſtande, den man ſich
ohne eheliche und alle andere geſelſchaftliche Verbindung
folglich ohne Kinder, Verwandten ꝛc. denkt, c] hat
dieſe Behauptung alsdenn allerdings ſeine Richtigkeit,
wenn iemand ohne ſeinen Willen zu erklaͤren verſtirbt.
Grotius glaubt hingegen mit andern d] es ſey, was
der Fall anlanget, da der Beſitzer ohne einen Nachfol-
ger zu ernennen [ab inteſtato] verſtorben, nicht zu
vermuthen, daß er ſeine Guͤter nach dem Tode habe
Preis geben, ſondern wahrſcheinlicher, daß er ſie denen,
welchen er die meiſte Liebe ſchuldig, z. B. ſeinen Kin-
dern, Verwandten ꝛc. habe laſſen wollen; zumal da
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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 2. Altenburg, 1792, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht02_1792/115>, abgerufen am 16.02.2025.
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