Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.und deren Gleichgewicht. ihrer Tactick die bekanten und gesitteten Reiche der dreyWelttheile unteriocht hatten, ward das politische Gleich- gewicht ganz aus der Welt verdrängt, und man kante vier Jahrhunderte hindurch, so lange das römische Reich theils in der Form eines Freistaats, theils als Monar- chie dauerte, bis zum vierten Jahrhundert der christli- chen Zeitrechnung weder die Sache, noch den Namen. Bey aller dieser Ueberlegenheit des römischen Reichs glückte es den tapfern teutschen Völkerschaften, welchen die römischen und neuern Schriftsteller ohne Grund den Namen der Barbaren aufbürden wollen, dennoch, nicht etwa durch eine Verbindung unter ihnen, sondern blos durch vorzüglichen Muth, den römischen Koloß über den Haufen zu werfen und auf seinen Trümmern alle neuere Reiche Europens zu errichten und zu gründen. Jede Na- zion dieser nordischen Eroberer war übrigens zufrieden, sich in dem Besitz der eingenommenen römischen Provinz zu erhalten, ohne daß eine von ihnen an eine Universal- monarchie, oder an ein Gleichgewicht hätte denken sollen. Karl der Große, Otto der Große und die beiden Frie- driche, teutsche Könige und Kaiser aus dem schwäbischen Hause, richteten zwar ihr Absehn auf eine algemeine Herschaft, und glaubten das große römische Reich wie- derhergestelt zu haben; aber es bestand blos im Namen. Das Lehnswesen und die darauf sich gründende Kriegs- verfassung, die tiefe Unwissenheit in der Staatskunst, die Anarchie und die unaufhörlichen innern Kriege, wel- che eine Folge dieser Verfassung waren, veranlaßten zwar öfters unter den Nazionen Uneinigkeiten und entge- gengeseztes Interesse, welche zuweiln ein besonderes und vorübergehendes Gleichgewicht bewürkten; aber auf eine dauerhafte und gründliche Art konte weder von einer Uni- versalmonarchie, noch von einem dieser entgegenzusetzen- den Gleichgewicht die Frage entstehn." a] Y
und deren Gleichgewicht. ihrer Tactick die bekanten und geſitteten Reiche der dreyWelttheile unteriocht hatten, ward das politiſche Gleich- gewicht ganz aus der Welt verdraͤngt, und man kante vier Jahrhunderte hindurch, ſo lange das roͤmiſche Reich theils in der Form eines Freiſtaats, theils als Monar- chie dauerte, bis zum vierten Jahrhundert der chriſtli- chen Zeitrechnung weder die Sache, noch den Namen. Bey aller dieſer Ueberlegenheit des roͤmiſchen Reichs gluͤckte es den tapfern teutſchen Voͤlkerſchaften, welchen die roͤmiſchen und neuern Schriftſteller ohne Grund den Namen der Barbaren aufbuͤrden wollen, dennoch, nicht etwa durch eine Verbindung unter ihnen, ſondern blos durch vorzuͤglichen Muth, den roͤmiſchen Koloß uͤber den Haufen zu werfen und auf ſeinen Truͤmmern alle neuere Reiche Europens zu errichten und zu gruͤnden. Jede Na- zion dieſer nordiſchen Eroberer war uͤbrigens zufrieden, ſich in dem Beſitz der eingenommenen roͤmiſchen Provinz zu erhalten, ohne daß eine von ihnen an eine Univerſal- monarchie, oder an ein Gleichgewicht haͤtte denken ſollen. Karl der Große, Otto der Große und die beiden Frie- driche, teutſche Koͤnige und Kaiſer aus dem ſchwaͤbiſchen Hauſe, richteten zwar ihr Abſehn auf eine algemeine Herſchaft, und glaubten das große roͤmiſche Reich wie- derhergeſtelt zu haben; aber es beſtand blos im Namen. Das Lehnsweſen und die darauf ſich gruͤndende Kriegs- verfaſſung, die tiefe Unwiſſenheit in der Staatskunſt, die Anarchie und die unaufhoͤrlichen innern Kriege, wel- che eine Folge dieſer Verfaſſung waren, veranlaßten zwar oͤfters unter den Nazionen Uneinigkeiten und entge- gengeſeztes Intereſſe, welche zuweiln ein beſonderes und voruͤbergehendes Gleichgewicht bewuͤrkten; aber auf eine dauerhafte und gruͤndliche Art konte weder von einer Uni- verſalmonarchie, noch von einem dieſer entgegenzuſetzen- den Gleichgewicht die Frage entſtehn.” a] Y
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ihrer Tactick die bekanten und geſitteten Reiche der drey
Welttheile unteriocht hatten, ward das politiſche Gleich-
gewicht ganz aus der Welt verdraͤngt, und man kante
vier Jahrhunderte hindurch, ſo lange das roͤmiſche Reich
theils in der Form eines Freiſtaats, theils als Monar-
chie dauerte, bis zum vierten Jahrhundert der chriſtli-
chen Zeitrechnung weder die Sache, noch den Namen.
Bey aller dieſer Ueberlegenheit des roͤmiſchen Reichs
gluͤckte es den tapfern teutſchen Voͤlkerſchaften, welchen
die roͤmiſchen und neuern Schriftſteller ohne Grund den
Namen der Barbaren aufbuͤrden wollen, dennoch, nicht
etwa durch eine Verbindung unter ihnen, ſondern blos
durch vorzuͤglichen Muth, den roͤmiſchen Koloß uͤber den
Haufen zu werfen und auf ſeinen Truͤmmern alle neuere
Reiche Europens zu errichten und zu gruͤnden. Jede Na-
zion dieſer nordiſchen Eroberer war uͤbrigens zufrieden,
ſich in dem Beſitz der eingenommenen roͤmiſchen Provinz
zu erhalten, ohne daß eine von ihnen an eine Univerſal-
monarchie, oder an ein Gleichgewicht haͤtte denken ſollen.
Karl der Große, Otto der Große und die beiden Frie-
driche, teutſche Koͤnige und Kaiſer aus dem ſchwaͤbiſchen
Hauſe, richteten zwar ihr Abſehn auf eine algemeine
Herſchaft, und glaubten das große roͤmiſche Reich wie-
derhergeſtelt zu haben; aber es beſtand blos im Namen.
Das Lehnsweſen und die darauf ſich gruͤndende Kriegs-
verfaſſung, die tiefe Unwiſſenheit in der Staatskunſt,
die Anarchie und die unaufhoͤrlichen innern Kriege, wel-
che eine Folge dieſer Verfaſſung waren, veranlaßten
zwar oͤfters unter den Nazionen Uneinigkeiten und entge-
gengeſeztes Intereſſe, welche zuweiln ein beſonderes und
voruͤbergehendes Gleichgewicht bewuͤrkten; aber auf eine
dauerhafte und gruͤndliche Art konte weder von einer Uni-
verſalmonarchie, noch von einem dieſer entgegenzuſetzen-
den Gleichgewicht die Frage entſtehn.”
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