Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.licher und gefährlicher Abbe gewesen, aber in diesem sind Sie nur ein -- deutscher Träumer. In diesem Augenblick schlug die Thurmuhr der Kirche die neunte Stunde -- die Zeit, um welche der alte Großpapa Juliens aufzustehen pflegte. Ich muß fort, rief sie und wandte sich zur Thür. Fort, o Julia? und sollen diese göttlichen Minuten so schnöde enden -- o Julia, Sie sind eine Sirene, eine Melusine! -- Hier ist Ihr Brief, nehmen Sie ihn wieder hin, ich verstehe diese Phrasen von Rettung nicht. -- Nehmen Sie -- ich werde Sie niemals retten, ich gebe Sie auf, denn Sie haben nur mit mir gespielt! Frau Julia stand schon auf der Schwelle der Thür; sie mußte bei den Worten Isidors laut auflachen. Dann kam sie noch einmal zurück. Sind Sie ein Mann, Vetter Isidor? Gnädige Frau, antwortete der Vetter mit plötzlicher Verlegenheit, ich trage die toga virilis bald ein Vierteljahrhundert. Wohl -- es könnte eine Art geben, wie ich Ihr Bündniß vielleicht annehmen würde. Julia! rief er wieder begeistert, Sie sind meine Göttin, befehlen Sie über mich! Still, nicht so laut, fuhr sie hastig und flüsternd fort. Ich sagte Ihnen vorher schon -- höher als alle anderen Rücksichten steht mein Ruf. Hier sind wir beobachtet und von hundert Hindernissen umgeben. Ich licher und gefährlicher Abbé gewesen, aber in diesem sind Sie nur ein — deutscher Träumer. In diesem Augenblick schlug die Thurmuhr der Kirche die neunte Stunde — die Zeit, um welche der alte Großpapa Juliens aufzustehen pflegte. Ich muß fort, rief sie und wandte sich zur Thür. Fort, o Julia? und sollen diese göttlichen Minuten so schnöde enden — o Julia, Sie sind eine Sirene, eine Melusine! — Hier ist Ihr Brief, nehmen Sie ihn wieder hin, ich verstehe diese Phrasen von Rettung nicht. — Nehmen Sie — ich werde Sie niemals retten, ich gebe Sie auf, denn Sie haben nur mit mir gespielt! Frau Julia stand schon auf der Schwelle der Thür; sie mußte bei den Worten Isidors laut auflachen. Dann kam sie noch einmal zurück. Sind Sie ein Mann, Vetter Isidor? Gnädige Frau, antwortete der Vetter mit plötzlicher Verlegenheit, ich trage die toga virilis bald ein Vierteljahrhundert. Wohl — es könnte eine Art geben, wie ich Ihr Bündniß vielleicht annehmen würde. Julia! rief er wieder begeistert, Sie sind meine Göttin, befehlen Sie über mich! Still, nicht so laut, fuhr sie hastig und flüsternd fort. Ich sagte Ihnen vorher schon — höher als alle anderen Rücksichten steht mein Ruf. Hier sind wir beobachtet und von hundert Hindernissen umgeben. Ich <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0097"/> licher und gefährlicher Abbé gewesen, aber in diesem sind Sie nur ein — deutscher Träumer.</p><lb/> <p>In diesem Augenblick schlug die Thurmuhr der Kirche die neunte Stunde — die Zeit, um welche der alte Großpapa Juliens aufzustehen pflegte.</p><lb/> <p>Ich muß fort, rief sie und wandte sich zur Thür.</p><lb/> <p>Fort, o Julia? und sollen diese göttlichen Minuten so schnöde enden — o Julia, Sie sind eine Sirene, eine Melusine! — Hier ist Ihr Brief, nehmen Sie ihn wieder hin, ich verstehe diese Phrasen von Rettung nicht. — Nehmen Sie — ich werde Sie niemals retten, ich gebe Sie auf, denn Sie haben nur mit mir gespielt!</p><lb/> <p>Frau Julia stand schon auf der Schwelle der Thür; sie mußte bei den Worten Isidors laut auflachen. Dann kam sie noch einmal zurück.</p><lb/> <p>Sind Sie ein Mann, Vetter Isidor?</p><lb/> <p>Gnädige Frau, antwortete der Vetter mit plötzlicher Verlegenheit, ich trage die toga virilis bald ein Vierteljahrhundert.</p><lb/> <p>Wohl — es könnte eine Art geben, wie ich Ihr Bündniß vielleicht annehmen würde.</p><lb/> <p>Julia! rief er wieder begeistert, Sie sind meine Göttin, befehlen Sie über mich!</p><lb/> <p>Still, nicht so laut, fuhr sie hastig und flüsternd fort. Ich sagte Ihnen vorher schon — höher als alle anderen Rücksichten steht mein Ruf. Hier sind wir beobachtet und von hundert Hindernissen umgeben. Ich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0097]
licher und gefährlicher Abbé gewesen, aber in diesem sind Sie nur ein — deutscher Träumer.
In diesem Augenblick schlug die Thurmuhr der Kirche die neunte Stunde — die Zeit, um welche der alte Großpapa Juliens aufzustehen pflegte.
Ich muß fort, rief sie und wandte sich zur Thür.
Fort, o Julia? und sollen diese göttlichen Minuten so schnöde enden — o Julia, Sie sind eine Sirene, eine Melusine! — Hier ist Ihr Brief, nehmen Sie ihn wieder hin, ich verstehe diese Phrasen von Rettung nicht. — Nehmen Sie — ich werde Sie niemals retten, ich gebe Sie auf, denn Sie haben nur mit mir gespielt!
Frau Julia stand schon auf der Schwelle der Thür; sie mußte bei den Worten Isidors laut auflachen. Dann kam sie noch einmal zurück.
Sind Sie ein Mann, Vetter Isidor?
Gnädige Frau, antwortete der Vetter mit plötzlicher Verlegenheit, ich trage die toga virilis bald ein Vierteljahrhundert.
Wohl — es könnte eine Art geben, wie ich Ihr Bündniß vielleicht annehmen würde.
Julia! rief er wieder begeistert, Sie sind meine Göttin, befehlen Sie über mich!
Still, nicht so laut, fuhr sie hastig und flüsternd fort. Ich sagte Ihnen vorher schon — höher als alle anderen Rücksichten steht mein Ruf. Hier sind wir beobachtet und von hundert Hindernissen umgeben. Ich
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/97>, abgerufen am 22.07.2024. |