Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

gewußt, so würde ich Bedenken getragen haben, hier einzutreten.

Mein Himmel, gnädigste Frau! rief der Vetter bestürzt. Was können Sie gegen meine unbedeutendste Wenigkeit haben? Noch immer jenes unglückseligste Mißverständniß, das mich seit vierzehn Tagen Ihres beglückendsten Anblicks beraubt? O, diese Mißverständnisse, das Verhängniß unseres Jahrhunderts, das Gespenst zwischen Völkern und Königen, -- wäre es möglich, daß es auch hier festen Fuß fassen sollte?

Ganz scheint es doch nicht beseitigt zu sein, Herr Secretär, sagte Julia, sich nach dem Ausgang umsehend, ob die Frau Conrectorin nicht bald zurückkehren würde. Sie kennen mich ja gar nicht.

Sagen Sie das nicht! rief der Vetter mit leidenschaftlicher Emphase. Ich kannte Sie nicht, meine Gnädigste, so lange ich nur das unsagbarste Glück hatte, Sie zuweilen im Walde zu begrüßen. Damals umschwebte der zarteste Schleier eines süßesten, unauflöslichsten Geheimnisses Ihr räthselhaftes Sein. Sie waren mir, so zu sagen, eine Fee des Waldes, eine Dryade, eine Shakespear'sche Rosalinde; allein seit der willenloseste Zufall mich Sie hier entdecken ließ, kenne ich auch Ihre Geschichte, und ich darf wohl sagen, daß sie mich auf das Tiefste erschüttert hat. Ich weiß um all Ihre Leiden, Ihre Enttäuschungen, Ihre traurigen Erfahrungen -- doch rühren wir nicht an diese heiligen Dinge. Lassen Sie mir die Befriedigung, zu sagen: ich kenne Sie, ich

gewußt, so würde ich Bedenken getragen haben, hier einzutreten.

Mein Himmel, gnädigste Frau! rief der Vetter bestürzt. Was können Sie gegen meine unbedeutendste Wenigkeit haben? Noch immer jenes unglückseligste Mißverständniß, das mich seit vierzehn Tagen Ihres beglückendsten Anblicks beraubt? O, diese Mißverständnisse, das Verhängniß unseres Jahrhunderts, das Gespenst zwischen Völkern und Königen, — wäre es möglich, daß es auch hier festen Fuß fassen sollte?

Ganz scheint es doch nicht beseitigt zu sein, Herr Secretär, sagte Julia, sich nach dem Ausgang umsehend, ob die Frau Conrectorin nicht bald zurückkehren würde. Sie kennen mich ja gar nicht.

Sagen Sie das nicht! rief der Vetter mit leidenschaftlicher Emphase. Ich kannte Sie nicht, meine Gnädigste, so lange ich nur das unsagbarste Glück hatte, Sie zuweilen im Walde zu begrüßen. Damals umschwebte der zarteste Schleier eines süßesten, unauflöslichsten Geheimnisses Ihr räthselhaftes Sein. Sie waren mir, so zu sagen, eine Fee des Waldes, eine Dryade, eine Shakespear'sche Rosalinde; allein seit der willenloseste Zufall mich Sie hier entdecken ließ, kenne ich auch Ihre Geschichte, und ich darf wohl sagen, daß sie mich auf das Tiefste erschüttert hat. Ich weiß um all Ihre Leiden, Ihre Enttäuschungen, Ihre traurigen Erfahrungen — doch rühren wir nicht an diese heiligen Dinge. Lassen Sie mir die Befriedigung, zu sagen: ich kenne Sie, ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="4">
        <p><pb facs="#f0088"/>
gewußt, so                würde ich Bedenken getragen haben, hier einzutreten.</p><lb/>
        <p>Mein Himmel, gnädigste Frau! rief der Vetter bestürzt. Was können Sie gegen meine                unbedeutendste Wenigkeit haben? Noch immer jenes unglückseligste Mißverständniß, das                mich seit vierzehn Tagen Ihres beglückendsten Anblicks beraubt? O, diese                Mißverständnisse, das Verhängniß unseres Jahrhunderts, das Gespenst zwischen Völkern                und Königen, &#x2014; wäre es möglich, daß es auch hier festen Fuß fassen sollte?</p><lb/>
        <p>Ganz scheint es doch nicht beseitigt zu sein, Herr Secretär, sagte Julia, sich nach                dem Ausgang umsehend, ob die Frau Conrectorin nicht bald zurückkehren würde. Sie                kennen mich ja gar nicht.</p><lb/>
        <p>Sagen Sie das nicht! rief der Vetter mit leidenschaftlicher Emphase. Ich kannte Sie                nicht, meine Gnädigste, so lange ich nur das unsagbarste Glück hatte, Sie zuweilen im                Walde zu begrüßen. Damals umschwebte der zarteste Schleier eines süßesten,                unauflöslichsten Geheimnisses Ihr räthselhaftes Sein. Sie waren mir, so zu sagen,                eine Fee des Waldes, eine Dryade, eine Shakespear'sche Rosalinde; allein seit der                willenloseste Zufall mich Sie hier entdecken ließ, kenne ich auch Ihre Geschichte,                und ich darf wohl sagen, daß sie mich auf das Tiefste erschüttert hat. Ich weiß um                all Ihre Leiden, Ihre Enttäuschungen, Ihre traurigen Erfahrungen &#x2014; doch rühren wir                nicht an diese heiligen Dinge. Lassen Sie mir die Befriedigung, zu sagen: ich kenne                Sie, ich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0088] gewußt, so würde ich Bedenken getragen haben, hier einzutreten. Mein Himmel, gnädigste Frau! rief der Vetter bestürzt. Was können Sie gegen meine unbedeutendste Wenigkeit haben? Noch immer jenes unglückseligste Mißverständniß, das mich seit vierzehn Tagen Ihres beglückendsten Anblicks beraubt? O, diese Mißverständnisse, das Verhängniß unseres Jahrhunderts, das Gespenst zwischen Völkern und Königen, — wäre es möglich, daß es auch hier festen Fuß fassen sollte? Ganz scheint es doch nicht beseitigt zu sein, Herr Secretär, sagte Julia, sich nach dem Ausgang umsehend, ob die Frau Conrectorin nicht bald zurückkehren würde. Sie kennen mich ja gar nicht. Sagen Sie das nicht! rief der Vetter mit leidenschaftlicher Emphase. Ich kannte Sie nicht, meine Gnädigste, so lange ich nur das unsagbarste Glück hatte, Sie zuweilen im Walde zu begrüßen. Damals umschwebte der zarteste Schleier eines süßesten, unauflöslichsten Geheimnisses Ihr räthselhaftes Sein. Sie waren mir, so zu sagen, eine Fee des Waldes, eine Dryade, eine Shakespear'sche Rosalinde; allein seit der willenloseste Zufall mich Sie hier entdecken ließ, kenne ich auch Ihre Geschichte, und ich darf wohl sagen, daß sie mich auf das Tiefste erschüttert hat. Ich weiß um all Ihre Leiden, Ihre Enttäuschungen, Ihre traurigen Erfahrungen — doch rühren wir nicht an diese heiligen Dinge. Lassen Sie mir die Befriedigung, zu sagen: ich kenne Sie, ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/88
Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/88>, abgerufen am 28.11.2024.