Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.zerstreute sich die kleine Gemeinde, aber die Dame in Schwarz lag noch lange im Gebete; endlich, als schon Alle das Kirchlein verlassen, erhob sie sich und schritt zum Ausgang; sie war schon über die Schwelle getreten, als die Frau Conrectorin sie einholte und neben ihr hinschritt. Nun, Frau Julia, kennen wir uns gar nicht mehr? sagte sie leise. Bitte, reden Sie mich nicht an, Frau Conrectorin, erwiderte die junge Frau und wagte kaum aufzusehen. Sie stürzen mich in tausend Verlegenheiten. Ach was! -- hier zwischen den Gräbern, wo uns nur der liebe Gott sieht, hat's nicht Gefahr; haben Sie nur keine Angst. Sie arme Julia, wie hat es mich gedrängt, Sie einmal zu sprechen, Sie zu küssen und Ihnen zu sagen, wie innig Theil ich an Ihrem Schicksal nehme. Du meine Güte, wer hätte es gedacht, daß es so kommen sollte! Und nun seien Sie einmal ohne Sorgen und richten Ihr Köpfchen auf. Aber Frau Julia schien diesem Zuspruch wenig Gehör zu schenken, noch zu vertraulichem Geplauder aufgelegt zu sein. Ihre Miene behielt einen ernsten und gedrückten Zug. Was wünschen Sie von mir, Frau Conrectorin? Bitte, sagen Sie es schnell. Haben Sie etwa Nachrichten von ihm? Von ihm, von Herrn Heister, meinen Sie? Gott behüte -- nein, ich mische mich auch in keine fremden zerstreute sich die kleine Gemeinde, aber die Dame in Schwarz lag noch lange im Gebete; endlich, als schon Alle das Kirchlein verlassen, erhob sie sich und schritt zum Ausgang; sie war schon über die Schwelle getreten, als die Frau Conrectorin sie einholte und neben ihr hinschritt. Nun, Frau Julia, kennen wir uns gar nicht mehr? sagte sie leise. Bitte, reden Sie mich nicht an, Frau Conrectorin, erwiderte die junge Frau und wagte kaum aufzusehen. Sie stürzen mich in tausend Verlegenheiten. Ach was! — hier zwischen den Gräbern, wo uns nur der liebe Gott sieht, hat's nicht Gefahr; haben Sie nur keine Angst. Sie arme Julia, wie hat es mich gedrängt, Sie einmal zu sprechen, Sie zu küssen und Ihnen zu sagen, wie innig Theil ich an Ihrem Schicksal nehme. Du meine Güte, wer hätte es gedacht, daß es so kommen sollte! Und nun seien Sie einmal ohne Sorgen und richten Ihr Köpfchen auf. Aber Frau Julia schien diesem Zuspruch wenig Gehör zu schenken, noch zu vertraulichem Geplauder aufgelegt zu sein. Ihre Miene behielt einen ernsten und gedrückten Zug. Was wünschen Sie von mir, Frau Conrectorin? Bitte, sagen Sie es schnell. Haben Sie etwa Nachrichten von ihm? Von ihm, von Herrn Heister, meinen Sie? Gott behüte — nein, ich mische mich auch in keine fremden <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0084"/> zerstreute sich die kleine Gemeinde, aber die Dame in Schwarz lag noch lange im Gebete; endlich, als schon Alle das Kirchlein verlassen, erhob sie sich und schritt zum Ausgang; sie war schon über die Schwelle getreten, als die Frau Conrectorin sie einholte und neben ihr hinschritt.</p><lb/> <p>Nun, Frau Julia, kennen wir uns gar nicht mehr? sagte sie leise.</p><lb/> <p>Bitte, reden Sie mich nicht an, Frau Conrectorin, erwiderte die junge Frau und wagte kaum aufzusehen. Sie stürzen mich in tausend Verlegenheiten.</p><lb/> <p>Ach was! — hier zwischen den Gräbern, wo uns nur der liebe Gott sieht, hat's nicht Gefahr; haben Sie nur keine Angst. Sie arme Julia, wie hat es mich gedrängt, Sie einmal zu sprechen, Sie zu küssen und Ihnen zu sagen, wie innig Theil ich an Ihrem Schicksal nehme. Du meine Güte, wer hätte es gedacht, daß es so kommen sollte! Und nun seien Sie einmal ohne Sorgen und richten Ihr Köpfchen auf.</p><lb/> <p>Aber Frau Julia schien diesem Zuspruch wenig Gehör zu schenken, noch zu vertraulichem Geplauder aufgelegt zu sein. Ihre Miene behielt einen ernsten und gedrückten Zug.</p><lb/> <p>Was wünschen Sie von mir, Frau Conrectorin? Bitte, sagen Sie es schnell. Haben Sie etwa Nachrichten von ihm?</p><lb/> <p>Von ihm, von Herrn Heister, meinen Sie? Gott behüte — nein, ich mische mich auch in keine fremden<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0084]
zerstreute sich die kleine Gemeinde, aber die Dame in Schwarz lag noch lange im Gebete; endlich, als schon Alle das Kirchlein verlassen, erhob sie sich und schritt zum Ausgang; sie war schon über die Schwelle getreten, als die Frau Conrectorin sie einholte und neben ihr hinschritt.
Nun, Frau Julia, kennen wir uns gar nicht mehr? sagte sie leise.
Bitte, reden Sie mich nicht an, Frau Conrectorin, erwiderte die junge Frau und wagte kaum aufzusehen. Sie stürzen mich in tausend Verlegenheiten.
Ach was! — hier zwischen den Gräbern, wo uns nur der liebe Gott sieht, hat's nicht Gefahr; haben Sie nur keine Angst. Sie arme Julia, wie hat es mich gedrängt, Sie einmal zu sprechen, Sie zu küssen und Ihnen zu sagen, wie innig Theil ich an Ihrem Schicksal nehme. Du meine Güte, wer hätte es gedacht, daß es so kommen sollte! Und nun seien Sie einmal ohne Sorgen und richten Ihr Köpfchen auf.
Aber Frau Julia schien diesem Zuspruch wenig Gehör zu schenken, noch zu vertraulichem Geplauder aufgelegt zu sein. Ihre Miene behielt einen ernsten und gedrückten Zug.
Was wünschen Sie von mir, Frau Conrectorin? Bitte, sagen Sie es schnell. Haben Sie etwa Nachrichten von ihm?
Von ihm, von Herrn Heister, meinen Sie? Gott behüte — nein, ich mische mich auch in keine fremden
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/84>, abgerufen am 22.07.2024. |