Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.leidvoll und doch so zurückhaltend schüchtern, daß mein ganzes Herz aufging. Was ich zu ihr gesagt, ich weiß es nicht mehr, aber es mußte wohl eine Frage nach ihrer Familie dabei gewesen sein, denn sie sagte: Wollen Sie mich nicht auf immer von meinem Lieblingsplätzchen verscheuchen, so bitte ich, nie eine solche Frage an mich zu richten, ja sie beschwor mich ausdrücklich, nie nach ihrem Namen zu fragen, ihr auch niemals zu folgen, und dabei gewann sie ganz ihre vorige Würde und ihren zurückhaltenden Ernst wieder -- o, Frau Conrectorin, ich kann Ihnen nicht sagen, welche wonnevollen Stunden, welche erhabenen Momente ich an der Seite dieses herrlichen Wesens verlebt habe! Die bloße Vorstellung, sie wieder zu sehen, setzte mich in einen Zustand des Entzückens und der Seligkeit, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. -- O glauben Sie mir, Frau Conrectorin, ich bin in diesen Tagen, in diesen Wochen ein anderer Mensch geworden! -- Die Frau Conrectorin hatte mehreremal den Kopf geschüttelt. Das ist ja eine höchst sonderbare Geschichte -- nein, nein, nein, diese unvorsichtige, diese arglose Frau! Wie leicht hätte ein Anderer sie compromittiren können, nun Gottlob, diesmal war es nur der Herr Vetter -- Was wollen Sie damit sagen, Frau Conrectorin? rief der gekränkte Idealist. Mein Himmel, liebes Vetterchen, merken Sie denn leidvoll und doch so zurückhaltend schüchtern, daß mein ganzes Herz aufging. Was ich zu ihr gesagt, ich weiß es nicht mehr, aber es mußte wohl eine Frage nach ihrer Familie dabei gewesen sein, denn sie sagte: Wollen Sie mich nicht auf immer von meinem Lieblingsplätzchen verscheuchen, so bitte ich, nie eine solche Frage an mich zu richten, ja sie beschwor mich ausdrücklich, nie nach ihrem Namen zu fragen, ihr auch niemals zu folgen, und dabei gewann sie ganz ihre vorige Würde und ihren zurückhaltenden Ernst wieder — o, Frau Conrectorin, ich kann Ihnen nicht sagen, welche wonnevollen Stunden, welche erhabenen Momente ich an der Seite dieses herrlichen Wesens verlebt habe! Die bloße Vorstellung, sie wieder zu sehen, setzte mich in einen Zustand des Entzückens und der Seligkeit, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. — O glauben Sie mir, Frau Conrectorin, ich bin in diesen Tagen, in diesen Wochen ein anderer Mensch geworden! — Die Frau Conrectorin hatte mehreremal den Kopf geschüttelt. Das ist ja eine höchst sonderbare Geschichte — nein, nein, nein, diese unvorsichtige, diese arglose Frau! Wie leicht hätte ein Anderer sie compromittiren können, nun Gottlob, diesmal war es nur der Herr Vetter — Was wollen Sie damit sagen, Frau Conrectorin? rief der gekränkte Idealist. Mein Himmel, liebes Vetterchen, merken Sie denn <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0054"/> leidvoll und doch so zurückhaltend schüchtern, daß mein ganzes Herz aufging. Was ich zu ihr gesagt, ich weiß es nicht mehr, aber es mußte wohl eine Frage nach ihrer Familie dabei gewesen sein, denn sie sagte: Wollen Sie mich nicht auf immer von meinem Lieblingsplätzchen verscheuchen, so bitte ich, nie eine solche Frage an mich zu richten, ja sie beschwor mich ausdrücklich, nie nach ihrem Namen zu fragen, ihr auch niemals zu folgen, und dabei gewann sie ganz ihre vorige Würde und ihren zurückhaltenden Ernst wieder — o, Frau Conrectorin, ich kann Ihnen nicht sagen, welche wonnevollen Stunden, welche erhabenen Momente ich an der Seite dieses herrlichen Wesens verlebt habe! Die bloße Vorstellung, sie wieder zu sehen, setzte mich in einen Zustand des Entzückens und der Seligkeit, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. — O glauben Sie mir, Frau Conrectorin, ich bin in diesen Tagen, in diesen Wochen ein anderer Mensch geworden! —</p><lb/> <p>Die Frau Conrectorin hatte mehreremal den Kopf geschüttelt.</p><lb/> <p>Das ist ja eine höchst sonderbare Geschichte — nein, nein, nein, diese unvorsichtige, diese arglose Frau! Wie leicht hätte ein Anderer sie compromittiren können, nun Gottlob, diesmal war es nur der Herr Vetter —</p><lb/> <p>Was wollen Sie damit sagen, Frau Conrectorin? rief der gekränkte Idealist.</p><lb/> <p>Mein Himmel, liebes Vetterchen, merken Sie denn<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
leidvoll und doch so zurückhaltend schüchtern, daß mein ganzes Herz aufging. Was ich zu ihr gesagt, ich weiß es nicht mehr, aber es mußte wohl eine Frage nach ihrer Familie dabei gewesen sein, denn sie sagte: Wollen Sie mich nicht auf immer von meinem Lieblingsplätzchen verscheuchen, so bitte ich, nie eine solche Frage an mich zu richten, ja sie beschwor mich ausdrücklich, nie nach ihrem Namen zu fragen, ihr auch niemals zu folgen, und dabei gewann sie ganz ihre vorige Würde und ihren zurückhaltenden Ernst wieder — o, Frau Conrectorin, ich kann Ihnen nicht sagen, welche wonnevollen Stunden, welche erhabenen Momente ich an der Seite dieses herrlichen Wesens verlebt habe! Die bloße Vorstellung, sie wieder zu sehen, setzte mich in einen Zustand des Entzückens und der Seligkeit, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. — O glauben Sie mir, Frau Conrectorin, ich bin in diesen Tagen, in diesen Wochen ein anderer Mensch geworden! —
Die Frau Conrectorin hatte mehreremal den Kopf geschüttelt.
Das ist ja eine höchst sonderbare Geschichte — nein, nein, nein, diese unvorsichtige, diese arglose Frau! Wie leicht hätte ein Anderer sie compromittiren können, nun Gottlob, diesmal war es nur der Herr Vetter —
Was wollen Sie damit sagen, Frau Conrectorin? rief der gekränkte Idealist.
Mein Himmel, liebes Vetterchen, merken Sie denn
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/54>, abgerufen am 22.07.2024. |