Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Sprache würden unvermögend sein, es auszudrücken -- und doch, um wie viel leichter würde es mir sein, wenn ich den Entschluß fassen könnte -- o, meine theure Freundin, Sie müssen meine Vertraute werden, Sie müssen mir einen Rath geben, Sie müssen das Steuer meines Lebensschiffleins in Ihre liebe Hand nehmen -- Die gutmüthige Frau Conrectorin stellte rasch die Schüssel mit den Aepfeln weg und betrachtete den Vetter halb mit freudigem Staunen, halb mit forschendem Zweifel, ob er etwa von einem luxuriösen Diner käme und ein Glas zu viel erwischt hätte. Seine schwächliche Constitution konnte niemals viel vertragen. Sehen Sie, fuhr er mit gesteigertem Pathos fort, ich komme mit einer großen, zwar schüchternen, nichtsdestoweniger aber dringenden Bitte zu Ihnen -- einer Bitte, an welcher Leben und Sterben für mich hängt -- Mein Gott, machen Sie's nur nicht gar so grauslich, Vetterchen! Was giebt's denn? Mit Einem Worte, ich befinde mich in einer hochtragischen Situation. Hochtragisch, das ist ja Ihr Lebenselement, Vetterchen. Nur heraus damit! Sie machen ja ein Gesicht, als wäre es eine ernsthafte Angelegenheit? Haben Sie Verluste gehabt, ist Ihnen ein Schuldner durchgegangen, oder eine erwartete Einnahme ausgeblieben? Dergleichen kommt ja vor. Sprache würden unvermögend sein, es auszudrücken — und doch, um wie viel leichter würde es mir sein, wenn ich den Entschluß fassen könnte — o, meine theure Freundin, Sie müssen meine Vertraute werden, Sie müssen mir einen Rath geben, Sie müssen das Steuer meines Lebensschiffleins in Ihre liebe Hand nehmen — Die gutmüthige Frau Conrectorin stellte rasch die Schüssel mit den Aepfeln weg und betrachtete den Vetter halb mit freudigem Staunen, halb mit forschendem Zweifel, ob er etwa von einem luxuriösen Diner käme und ein Glas zu viel erwischt hätte. Seine schwächliche Constitution konnte niemals viel vertragen. Sehen Sie, fuhr er mit gesteigertem Pathos fort, ich komme mit einer großen, zwar schüchternen, nichtsdestoweniger aber dringenden Bitte zu Ihnen — einer Bitte, an welcher Leben und Sterben für mich hängt — Mein Gott, machen Sie's nur nicht gar so grauslich, Vetterchen! Was giebt's denn? Mit Einem Worte, ich befinde mich in einer hochtragischen Situation. Hochtragisch, das ist ja Ihr Lebenselement, Vetterchen. Nur heraus damit! Sie machen ja ein Gesicht, als wäre es eine ernsthafte Angelegenheit? Haben Sie Verluste gehabt, ist Ihnen ein Schuldner durchgegangen, oder eine erwartete Einnahme ausgeblieben? Dergleichen kommt ja vor. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0044"/> Sprache würden unvermögend sein, es auszudrücken — und doch, um wie viel leichter würde es mir sein, wenn ich den Entschluß fassen könnte — o, meine theure Freundin, Sie müssen meine Vertraute werden, Sie müssen mir einen Rath geben, Sie müssen das Steuer meines Lebensschiffleins in Ihre liebe Hand nehmen —</p><lb/> <p>Die gutmüthige Frau Conrectorin stellte rasch die Schüssel mit den Aepfeln weg und betrachtete den Vetter halb mit freudigem Staunen, halb mit forschendem Zweifel, ob er etwa von einem luxuriösen Diner käme und ein Glas zu viel erwischt hätte. Seine schwächliche Constitution konnte niemals viel vertragen.</p><lb/> <p>Sehen Sie, fuhr er mit gesteigertem Pathos fort, ich komme mit einer großen, zwar schüchternen, nichtsdestoweniger aber dringenden Bitte zu Ihnen — einer Bitte, an welcher Leben und Sterben für mich hängt —</p><lb/> <p>Mein Gott, machen Sie's nur nicht gar so grauslich, Vetterchen! Was giebt's denn?</p><lb/> <p>Mit Einem Worte, ich befinde mich in einer hochtragischen Situation.</p><lb/> <p>Hochtragisch, das ist ja Ihr Lebenselement, Vetterchen. Nur heraus damit! Sie machen ja ein Gesicht, als wäre es eine ernsthafte Angelegenheit? Haben Sie Verluste gehabt, ist Ihnen ein Schuldner durchgegangen, oder eine erwartete Einnahme ausgeblieben? Dergleichen kommt ja vor.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
Sprache würden unvermögend sein, es auszudrücken — und doch, um wie viel leichter würde es mir sein, wenn ich den Entschluß fassen könnte — o, meine theure Freundin, Sie müssen meine Vertraute werden, Sie müssen mir einen Rath geben, Sie müssen das Steuer meines Lebensschiffleins in Ihre liebe Hand nehmen —
Die gutmüthige Frau Conrectorin stellte rasch die Schüssel mit den Aepfeln weg und betrachtete den Vetter halb mit freudigem Staunen, halb mit forschendem Zweifel, ob er etwa von einem luxuriösen Diner käme und ein Glas zu viel erwischt hätte. Seine schwächliche Constitution konnte niemals viel vertragen.
Sehen Sie, fuhr er mit gesteigertem Pathos fort, ich komme mit einer großen, zwar schüchternen, nichtsdestoweniger aber dringenden Bitte zu Ihnen — einer Bitte, an welcher Leben und Sterben für mich hängt —
Mein Gott, machen Sie's nur nicht gar so grauslich, Vetterchen! Was giebt's denn?
Mit Einem Worte, ich befinde mich in einer hochtragischen Situation.
Hochtragisch, das ist ja Ihr Lebenselement, Vetterchen. Nur heraus damit! Sie machen ja ein Gesicht, als wäre es eine ernsthafte Angelegenheit? Haben Sie Verluste gehabt, ist Ihnen ein Schuldner durchgegangen, oder eine erwartete Einnahme ausgeblieben? Dergleichen kommt ja vor.
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/44>, abgerufen am 16.02.2025. |