Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.chen, wenn es gerade Mode gewesen wäre; und darüber kam es zum Zank, ein Wort gab das andere, und im hellen Zorne ging der moderne Romeo fort, ohne sich wieder sehen zu lassen. Ein halbes Jahr verging; er war auf Reisen gegangen und hatte seine Braut vergessen. Da nahm sie einen anderen, einen älteren Freund von ihrem Verlobten, einen braven, redlichen, praktischen Mann. Den nahm sie, und sie waren ganz glücklich miteinander, bis er nach zehn Jahren starb als Conrector am hiesigen Gymnasium; Gott geb' ihm die ewige Ruhe. Der Andere aber, der ungetreue Romeo, blieb ewig ein verdorbener Student. Sie hat noch oft an ihn gedacht und bittere Thränen um ihn geweint; -- indeß ihr Mann rasch emporstieg, weil er sich in die Welt schickte, verkam jener und wurde nichts Rechtes, weil er nur Großes und Erhabenes erleben, weil er seine ganze Existenz in lauter Poesie verwandeln wollte. -- Wo eine neue Oper oder ein neues Trauerspiel gegeben wurde, mußte er dabei sein. Auf jedem Turnertag und Schützenfest, bei jeder Künstlerversammlung und jeder Säcularfeier von Dichtern mußte er seine Rede halten und seine Rolle spielen. Und bei alledem hatte er es noch ganz besonders auf die Frauen abgesehen. Ich glaube, es giebt keine Sängerin und Schauspielerin, keine junge Wittwe und keine Schönheit in der ganzen Stadt, für die er nicht eine Zeit lang geschwärmt hat, und darüber ist sein Leben zerfahren und seine schöne Jugendzeit vergangen; denn einen festen, muthigen Enschluß hat er niemals chen, wenn es gerade Mode gewesen wäre; und darüber kam es zum Zank, ein Wort gab das andere, und im hellen Zorne ging der moderne Romeo fort, ohne sich wieder sehen zu lassen. Ein halbes Jahr verging; er war auf Reisen gegangen und hatte seine Braut vergessen. Da nahm sie einen anderen, einen älteren Freund von ihrem Verlobten, einen braven, redlichen, praktischen Mann. Den nahm sie, und sie waren ganz glücklich miteinander, bis er nach zehn Jahren starb als Conrector am hiesigen Gymnasium; Gott geb' ihm die ewige Ruhe. Der Andere aber, der ungetreue Romeo, blieb ewig ein verdorbener Student. Sie hat noch oft an ihn gedacht und bittere Thränen um ihn geweint; — indeß ihr Mann rasch emporstieg, weil er sich in die Welt schickte, verkam jener und wurde nichts Rechtes, weil er nur Großes und Erhabenes erleben, weil er seine ganze Existenz in lauter Poesie verwandeln wollte. — Wo eine neue Oper oder ein neues Trauerspiel gegeben wurde, mußte er dabei sein. Auf jedem Turnertag und Schützenfest, bei jeder Künstlerversammlung und jeder Säcularfeier von Dichtern mußte er seine Rede halten und seine Rolle spielen. Und bei alledem hatte er es noch ganz besonders auf die Frauen abgesehen. Ich glaube, es giebt keine Sängerin und Schauspielerin, keine junge Wittwe und keine Schönheit in der ganzen Stadt, für die er nicht eine Zeit lang geschwärmt hat, und darüber ist sein Leben zerfahren und seine schöne Jugendzeit vergangen; denn einen festen, muthigen Enschluß hat er niemals <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0133"/> chen, wenn es gerade Mode gewesen wäre; und darüber kam es zum Zank, ein Wort gab das andere, und im hellen Zorne ging der moderne Romeo fort, ohne sich wieder sehen zu lassen. Ein halbes Jahr verging; er war auf Reisen gegangen und hatte seine Braut vergessen. Da nahm sie einen anderen, einen älteren Freund von ihrem Verlobten, einen braven, redlichen, praktischen Mann. Den nahm sie, und sie waren ganz glücklich miteinander, bis er nach zehn Jahren starb als Conrector am hiesigen Gymnasium; Gott geb' ihm die ewige Ruhe. Der Andere aber, der ungetreue Romeo, blieb ewig ein verdorbener Student. Sie hat noch oft an ihn gedacht und bittere Thränen um ihn geweint; — indeß ihr Mann rasch emporstieg, weil er sich in die Welt schickte, verkam jener und wurde nichts Rechtes, weil er nur Großes und Erhabenes erleben, weil er seine ganze Existenz in lauter Poesie verwandeln wollte. — Wo eine neue Oper oder ein neues Trauerspiel gegeben wurde, mußte er dabei sein. Auf jedem Turnertag und Schützenfest, bei jeder Künstlerversammlung und jeder Säcularfeier von Dichtern mußte er seine Rede halten und seine Rolle spielen. Und bei alledem hatte er es noch ganz besonders auf die Frauen abgesehen. Ich glaube, es giebt keine Sängerin und Schauspielerin, keine junge Wittwe und keine Schönheit in der ganzen Stadt, für die er nicht eine Zeit lang geschwärmt hat, und darüber ist sein Leben zerfahren und seine schöne Jugendzeit vergangen; denn einen festen, muthigen Enschluß hat er niemals<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0133]
chen, wenn es gerade Mode gewesen wäre; und darüber kam es zum Zank, ein Wort gab das andere, und im hellen Zorne ging der moderne Romeo fort, ohne sich wieder sehen zu lassen. Ein halbes Jahr verging; er war auf Reisen gegangen und hatte seine Braut vergessen. Da nahm sie einen anderen, einen älteren Freund von ihrem Verlobten, einen braven, redlichen, praktischen Mann. Den nahm sie, und sie waren ganz glücklich miteinander, bis er nach zehn Jahren starb als Conrector am hiesigen Gymnasium; Gott geb' ihm die ewige Ruhe. Der Andere aber, der ungetreue Romeo, blieb ewig ein verdorbener Student. Sie hat noch oft an ihn gedacht und bittere Thränen um ihn geweint; — indeß ihr Mann rasch emporstieg, weil er sich in die Welt schickte, verkam jener und wurde nichts Rechtes, weil er nur Großes und Erhabenes erleben, weil er seine ganze Existenz in lauter Poesie verwandeln wollte. — Wo eine neue Oper oder ein neues Trauerspiel gegeben wurde, mußte er dabei sein. Auf jedem Turnertag und Schützenfest, bei jeder Künstlerversammlung und jeder Säcularfeier von Dichtern mußte er seine Rede halten und seine Rolle spielen. Und bei alledem hatte er es noch ganz besonders auf die Frauen abgesehen. Ich glaube, es giebt keine Sängerin und Schauspielerin, keine junge Wittwe und keine Schönheit in der ganzen Stadt, für die er nicht eine Zeit lang geschwärmt hat, und darüber ist sein Leben zerfahren und seine schöne Jugendzeit vergangen; denn einen festen, muthigen Enschluß hat er niemals
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/133>, abgerufen am 16.07.2024. |