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Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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sich und mich unglücklich zu machen. Die Stimme der braven Frau hatte dabei einen etwas verschleierten, zitternden Ton angenommen.

Merkwürdig, murmelte Vetter Isidor in einer sonderbaren Schüchternheit.

Ja wohl, merkwürdig ist's, Vetterchen, sagte die Conrectorin mit sichrerem Tone; soll ich Ihnen etwa die Geschichte erzählen? Es wäre schon der Mühe werth, denn auf dem Gedächtniß wischen allerhand unberufene Schwämme herum, jeden Tag ein Stückchen und an manchem Tage gleich ein großes Stück. Da waren einmal zwei junge Leute beinah im gleichen Alter, die manches liebe lange Jahr miteinander in die Schule gegangen und zusammen aufgewachsen waren. Als er die Universität verließ, waren sie so gut wie Verlobte. Es ist noch ein ganzes Packet Briefe vorhanden, so zärtliche und feurige Briefe, daß sich jede Motte daran die Flügel versengen könnte. Da war es eines Tages -- es war ein Sommertag so schön wie heute -- da hatte sie eine Börse angefangen mit einem Vergißmeinnicht, denn sein Geburtstag war in einigen Wochen: da überraschte er sie unvermuthet, und er kam dahinter, für wen das Geschenk sei, und das empörte ihn -- ja, ja, Vetter, es empörte ihn; es war ihm nicht ideal, nicht schwärmerisch genug, sondern bloß praktisch, und er warf die Frage auf, ob Shakespeare's Julia ihrem Romeo wohl auch eine Börse gehäkelt haben würde mit einem Vergißmeinnicht. Warum denn nicht, sagte das junge Mäd-

sich und mich unglücklich zu machen. Die Stimme der braven Frau hatte dabei einen etwas verschleierten, zitternden Ton angenommen.

Merkwürdig, murmelte Vetter Isidor in einer sonderbaren Schüchternheit.

Ja wohl, merkwürdig ist's, Vetterchen, sagte die Conrectorin mit sichrerem Tone; soll ich Ihnen etwa die Geschichte erzählen? Es wäre schon der Mühe werth, denn auf dem Gedächtniß wischen allerhand unberufene Schwämme herum, jeden Tag ein Stückchen und an manchem Tage gleich ein großes Stück. Da waren einmal zwei junge Leute beinah im gleichen Alter, die manches liebe lange Jahr miteinander in die Schule gegangen und zusammen aufgewachsen waren. Als er die Universität verließ, waren sie so gut wie Verlobte. Es ist noch ein ganzes Packet Briefe vorhanden, so zärtliche und feurige Briefe, daß sich jede Motte daran die Flügel versengen könnte. Da war es eines Tages — es war ein Sommertag so schön wie heute — da hatte sie eine Börse angefangen mit einem Vergißmeinnicht, denn sein Geburtstag war in einigen Wochen: da überraschte er sie unvermuthet, und er kam dahinter, für wen das Geschenk sei, und das empörte ihn — ja, ja, Vetter, es empörte ihn; es war ihm nicht ideal, nicht schwärmerisch genug, sondern bloß praktisch, und er warf die Frage auf, ob Shakespeare's Julia ihrem Romeo wohl auch eine Börse gehäkelt haben würde mit einem Vergißmeinnicht. Warum denn nicht, sagte das junge Mäd-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

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Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/132>, abgerufen am 24.11.2024.