Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.hatte, mir meine Auslagen zurückerstatten zu lassen, war ich mit meinem Reisegeld bald zu Ende, so daß ich von Chur aus zu Fuß hierher zurückmarschieren mußte, sonst wäre ich längst wieder daheim gewesen. Sie armes Vetterchen, sagte die Conrectorin mit weichstem Tone, da haben Sie freilich ein hartes Martyrium durchmachen müssen; aber nun sollen Sie auch gepflegt werden zur Entschädigung, daß Sie Ihre Strapazen vergessen. Und sie nahm aus dem Wandschrank eine jener Flaschen und zwei von den grünen Römern, welche schon vor drei Wochen jenes entscheidende Dejeuner verherrlicht hatten; jetzt füllte sie dem Vetter und sich ein Glas mit edlem Rüdesheimer und stieß mit ihm an -- auf neues Leben. Rasch trank der Vetter aus und versank dann wieder in brütende Betrachtung. Seine alte Base, die Frau Conrectorin, kam ihm heute liebenswürdiger und, so zu sagen, jugendlicher als sonst vor. Endlich fragte er: Was sticken Sie denn eigentlich, Frau Conrectorin? Kennen Sie die Börse noch, von vor zwanzig Jahren? Ach Gott, das ist doch nicht etwa . . . stotterte der Vetter in halber Verlegenheit. Ja wohl, das ist die verhängnißvolle Börse mit dem traurigen Vergißmeinnicht; sie wurde niemals vollendet, weil ein gewisser böser Pedant seine Freude daran hatte, hatte, mir meine Auslagen zurückerstatten zu lassen, war ich mit meinem Reisegeld bald zu Ende, so daß ich von Chur aus zu Fuß hierher zurückmarschieren mußte, sonst wäre ich längst wieder daheim gewesen. Sie armes Vetterchen, sagte die Conrectorin mit weichstem Tone, da haben Sie freilich ein hartes Martyrium durchmachen müssen; aber nun sollen Sie auch gepflegt werden zur Entschädigung, daß Sie Ihre Strapazen vergessen. Und sie nahm aus dem Wandschrank eine jener Flaschen und zwei von den grünen Römern, welche schon vor drei Wochen jenes entscheidende Dejeuner verherrlicht hatten; jetzt füllte sie dem Vetter und sich ein Glas mit edlem Rüdesheimer und stieß mit ihm an — auf neues Leben. Rasch trank der Vetter aus und versank dann wieder in brütende Betrachtung. Seine alte Base, die Frau Conrectorin, kam ihm heute liebenswürdiger und, so zu sagen, jugendlicher als sonst vor. Endlich fragte er: Was sticken Sie denn eigentlich, Frau Conrectorin? Kennen Sie die Börse noch, von vor zwanzig Jahren? Ach Gott, das ist doch nicht etwa . . . stotterte der Vetter in halber Verlegenheit. Ja wohl, das ist die verhängnißvolle Börse mit dem traurigen Vergißmeinnicht; sie wurde niemals vollendet, weil ein gewisser böser Pedant seine Freude daran hatte, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0131"/> hatte, mir meine Auslagen zurückerstatten zu lassen, war ich mit meinem Reisegeld bald zu Ende, so daß ich von Chur aus zu Fuß hierher zurückmarschieren mußte, sonst wäre ich längst wieder daheim gewesen.</p><lb/> <p>Sie armes Vetterchen, sagte die Conrectorin mit weichstem Tone, da haben Sie freilich ein hartes Martyrium durchmachen müssen; aber nun sollen Sie auch gepflegt werden zur Entschädigung, daß Sie Ihre Strapazen vergessen.</p><lb/> <p>Und sie nahm aus dem Wandschrank eine jener Flaschen und zwei von den grünen Römern, welche schon vor drei Wochen jenes entscheidende Dejeuner verherrlicht hatten; jetzt füllte sie dem Vetter und sich ein Glas mit edlem Rüdesheimer und stieß mit ihm an — auf neues Leben.</p><lb/> <p>Rasch trank der Vetter aus und versank dann wieder in brütende Betrachtung.</p><lb/> <p>Seine alte Base, die Frau Conrectorin, kam ihm heute liebenswürdiger und, so zu sagen, jugendlicher als sonst vor.</p><lb/> <p>Endlich fragte er: Was sticken Sie denn eigentlich, Frau Conrectorin?</p><lb/> <p>Kennen Sie die Börse noch, von vor zwanzig Jahren?</p><lb/> <p>Ach Gott, das ist doch nicht etwa . . . stotterte der Vetter in halber Verlegenheit.</p><lb/> <p>Ja wohl, das ist die verhängnißvolle Börse mit dem traurigen Vergißmeinnicht; sie wurde niemals vollendet, weil ein gewisser böser Pedant seine Freude daran hatte,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0131]
hatte, mir meine Auslagen zurückerstatten zu lassen, war ich mit meinem Reisegeld bald zu Ende, so daß ich von Chur aus zu Fuß hierher zurückmarschieren mußte, sonst wäre ich längst wieder daheim gewesen.
Sie armes Vetterchen, sagte die Conrectorin mit weichstem Tone, da haben Sie freilich ein hartes Martyrium durchmachen müssen; aber nun sollen Sie auch gepflegt werden zur Entschädigung, daß Sie Ihre Strapazen vergessen.
Und sie nahm aus dem Wandschrank eine jener Flaschen und zwei von den grünen Römern, welche schon vor drei Wochen jenes entscheidende Dejeuner verherrlicht hatten; jetzt füllte sie dem Vetter und sich ein Glas mit edlem Rüdesheimer und stieß mit ihm an — auf neues Leben.
Rasch trank der Vetter aus und versank dann wieder in brütende Betrachtung.
Seine alte Base, die Frau Conrectorin, kam ihm heute liebenswürdiger und, so zu sagen, jugendlicher als sonst vor.
Endlich fragte er: Was sticken Sie denn eigentlich, Frau Conrectorin?
Kennen Sie die Börse noch, von vor zwanzig Jahren?
Ach Gott, das ist doch nicht etwa . . . stotterte der Vetter in halber Verlegenheit.
Ja wohl, das ist die verhängnißvolle Börse mit dem traurigen Vergißmeinnicht; sie wurde niemals vollendet, weil ein gewisser böser Pedant seine Freude daran hatte,
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/131>, abgerufen am 16.07.2024. |