Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Dageblieben, Vetterchen, dageblieben. Sie sind ja Zeitlebens ein solider, braver Mensch gewesen, dem man nichts Schlechtes nachsagen konnte. Natürlich haben Sie auch einmal ein Abenteuer erleben wollen, wie andere leichte Gesellen, aber Sie sehen, was dabei herauskommt. Nun und wie ging es denn weiter? Denn die schöne Geschichte kann doch noch nicht zu Ende sein. O wollte Gott, sie wäre es damals gewesen, denn Frau Julia wollte ja nur nach Chur gebracht sein, obgleich ich schon damals nicht begreifen konnte, was sie gerade dort wollte. Ohne mich weiter zu fragen, hatte sie noch Abends, und zwar hinter meinem Rücken, auf den andern Tag Extrapost nach Thusis und Bellinzona bestellt. Wohl oder übel mußte ich mich darein ergeben und schon um neun Uhr waren wir auf der göttlichen via mala, zwischen himmelhohen Felsenwänden und Abgründen. Aber wie war denn ihr Benehmen gegen Sie Vetterchen? Kühl und stolz und in sich gekehrt, als wenn gar nichts zwischen uns vorgefallen wäre. Von da an behandelte sie mich vollständig als ihren Packträger. Als wir bei einer steilen Strecke aussteigen mußten, lud sie mir Schirme und Plaids, Taschen und Tücher auf, so daß ich von der großen Naturscenerie nicht mehr genossen habe, als das erste beste Saumthier. Und was das Tollste war, in Thusis mußte ich wieder ihren Ritter machen. Dageblieben, Vetterchen, dageblieben. Sie sind ja Zeitlebens ein solider, braver Mensch gewesen, dem man nichts Schlechtes nachsagen konnte. Natürlich haben Sie auch einmal ein Abenteuer erleben wollen, wie andere leichte Gesellen, aber Sie sehen, was dabei herauskommt. Nun und wie ging es denn weiter? Denn die schöne Geschichte kann doch noch nicht zu Ende sein. O wollte Gott, sie wäre es damals gewesen, denn Frau Julia wollte ja nur nach Chur gebracht sein, obgleich ich schon damals nicht begreifen konnte, was sie gerade dort wollte. Ohne mich weiter zu fragen, hatte sie noch Abends, und zwar hinter meinem Rücken, auf den andern Tag Extrapost nach Thusis und Bellinzona bestellt. Wohl oder übel mußte ich mich darein ergeben und schon um neun Uhr waren wir auf der göttlichen via mala, zwischen himmelhohen Felsenwänden und Abgründen. Aber wie war denn ihr Benehmen gegen Sie Vetterchen? Kühl und stolz und in sich gekehrt, als wenn gar nichts zwischen uns vorgefallen wäre. Von da an behandelte sie mich vollständig als ihren Packträger. Als wir bei einer steilen Strecke aussteigen mußten, lud sie mir Schirme und Plaids, Taschen und Tücher auf, so daß ich von der großen Naturscenerie nicht mehr genossen habe, als das erste beste Saumthier. Und was das Tollste war, in Thusis mußte ich wieder ihren Ritter machen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <pb facs="#f0125"/> <p>Dageblieben, Vetterchen, dageblieben. Sie sind ja Zeitlebens ein solider, braver Mensch gewesen, dem man nichts Schlechtes nachsagen konnte. Natürlich haben Sie auch einmal ein Abenteuer erleben wollen, wie andere leichte Gesellen, aber Sie sehen, was dabei herauskommt. Nun und wie ging es denn weiter? Denn die schöne Geschichte kann doch noch nicht zu Ende sein.</p><lb/> <p>O wollte Gott, sie wäre es damals gewesen, denn Frau Julia wollte ja nur nach Chur gebracht sein, obgleich ich schon damals nicht begreifen konnte, was sie gerade dort wollte. Ohne mich weiter zu fragen, hatte sie noch Abends, und zwar hinter meinem Rücken, auf den andern Tag Extrapost nach Thusis und Bellinzona bestellt. Wohl oder übel mußte ich mich darein ergeben und schon um neun Uhr waren wir auf der göttlichen via mala, zwischen himmelhohen Felsenwänden und Abgründen.</p><lb/> <p>Aber wie war denn ihr Benehmen gegen Sie Vetterchen?</p><lb/> <p>Kühl und stolz und in sich gekehrt, als wenn gar nichts zwischen uns vorgefallen wäre. Von da an behandelte sie mich vollständig als ihren Packträger. Als wir bei einer steilen Strecke aussteigen mußten, lud sie mir Schirme und Plaids, Taschen und Tücher auf, so daß ich von der großen Naturscenerie nicht mehr genossen habe, als das erste beste Saumthier. Und was das Tollste war, in Thusis mußte ich wieder ihren Ritter machen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0125]
Dageblieben, Vetterchen, dageblieben. Sie sind ja Zeitlebens ein solider, braver Mensch gewesen, dem man nichts Schlechtes nachsagen konnte. Natürlich haben Sie auch einmal ein Abenteuer erleben wollen, wie andere leichte Gesellen, aber Sie sehen, was dabei herauskommt. Nun und wie ging es denn weiter? Denn die schöne Geschichte kann doch noch nicht zu Ende sein.
O wollte Gott, sie wäre es damals gewesen, denn Frau Julia wollte ja nur nach Chur gebracht sein, obgleich ich schon damals nicht begreifen konnte, was sie gerade dort wollte. Ohne mich weiter zu fragen, hatte sie noch Abends, und zwar hinter meinem Rücken, auf den andern Tag Extrapost nach Thusis und Bellinzona bestellt. Wohl oder übel mußte ich mich darein ergeben und schon um neun Uhr waren wir auf der göttlichen via mala, zwischen himmelhohen Felsenwänden und Abgründen.
Aber wie war denn ihr Benehmen gegen Sie Vetterchen?
Kühl und stolz und in sich gekehrt, als wenn gar nichts zwischen uns vorgefallen wäre. Von da an behandelte sie mich vollständig als ihren Packträger. Als wir bei einer steilen Strecke aussteigen mußten, lud sie mir Schirme und Plaids, Taschen und Tücher auf, so daß ich von der großen Naturscenerie nicht mehr genossen habe, als das erste beste Saumthier. Und was das Tollste war, in Thusis mußte ich wieder ihren Ritter machen.
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Zitationshilfe: | Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/125>, abgerufen am 16.07.2024. |