Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.die gnädige Frau Gemahlin? Vielleicht drüben beim Großpapa? Da schaute sie der Vetter mit seinen wasserblauen Augen so unsäglich wehmüthig und tiefsinnig an, schlug die Wimpern aber sofort wieder nieder wie in jungfräulicher Schüchternheit, daß die Conrectorin laut auflachen mußte. Nun das muß ich sagen, Vetter, wie ein glücklicher Ehemann oder hoffnungsvoller Bräutigam sehen Sie nicht aus. Nein, wie ein Esel -- sagen Sie es nur ungenirt heraus, wie ein unsterblicher Esel in Folio, der ich bin! rief Vetter Isidor mit ausbrechendem Ingrimm und fuhr mit den gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken, als wollte er sie sämmtlich ausreißen. Da endlich stand die Conrectorin auf und klopfte ihm begütigend auf die Schultern, obgleich sie sich des Lachens immer noch nicht erwehren konnte. Na, machen Sie es nur nicht zu arg, Vetterchen; allzu scharf macht schartig, hab' ich immer gesagt, aber Ihre Scharte läßt sich wohl noch auswetzen. Jetzt nehmen Sie ein Täßchen Chokolade -- es war ja immer Ihr Lieblingsgetränk. Ah, Sie erwarten Gesellschaft, rief der Vetter und wollte erschrocken die Flucht ergreifen. Ja wohl erwarte ich Gesellschaft, und sie ist schon da, Vetterchen, Sie sind es, den ich erwarte, und die Chokolade war schon alle die Tage her für Sie bereit. Ich wußte ja schon, daß es so kommen würde, wie es ge- die gnädige Frau Gemahlin? Vielleicht drüben beim Großpapa? Da schaute sie der Vetter mit seinen wasserblauen Augen so unsäglich wehmüthig und tiefsinnig an, schlug die Wimpern aber sofort wieder nieder wie in jungfräulicher Schüchternheit, daß die Conrectorin laut auflachen mußte. Nun das muß ich sagen, Vetter, wie ein glücklicher Ehemann oder hoffnungsvoller Bräutigam sehen Sie nicht aus. Nein, wie ein Esel — sagen Sie es nur ungenirt heraus, wie ein unsterblicher Esel in Folio, der ich bin! rief Vetter Isidor mit ausbrechendem Ingrimm und fuhr mit den gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken, als wollte er sie sämmtlich ausreißen. Da endlich stand die Conrectorin auf und klopfte ihm begütigend auf die Schultern, obgleich sie sich des Lachens immer noch nicht erwehren konnte. Na, machen Sie es nur nicht zu arg, Vetterchen; allzu scharf macht schartig, hab' ich immer gesagt, aber Ihre Scharte läßt sich wohl noch auswetzen. Jetzt nehmen Sie ein Täßchen Chokolade — es war ja immer Ihr Lieblingsgetränk. Ah, Sie erwarten Gesellschaft, rief der Vetter und wollte erschrocken die Flucht ergreifen. Ja wohl erwarte ich Gesellschaft, und sie ist schon da, Vetterchen, Sie sind es, den ich erwarte, und die Chokolade war schon alle die Tage her für Sie bereit. Ich wußte ja schon, daß es so kommen würde, wie es ge- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0118"/> die gnädige Frau Gemahlin? Vielleicht drüben beim Großpapa?</p><lb/> <p>Da schaute sie der Vetter mit seinen wasserblauen Augen so unsäglich wehmüthig und tiefsinnig an, schlug die Wimpern aber sofort wieder nieder wie in jungfräulicher Schüchternheit, daß die Conrectorin laut auflachen mußte.</p><lb/> <p>Nun das muß ich sagen, Vetter, wie ein glücklicher Ehemann oder hoffnungsvoller Bräutigam sehen Sie nicht aus.</p><lb/> <p>Nein, wie ein Esel — sagen Sie es nur ungenirt heraus, wie ein unsterblicher Esel in Folio, der ich bin! rief Vetter Isidor mit ausbrechendem Ingrimm und fuhr mit den gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken, als wollte er sie sämmtlich ausreißen.</p><lb/> <p>Da endlich stand die Conrectorin auf und klopfte ihm begütigend auf die Schultern, obgleich sie sich des Lachens immer noch nicht erwehren konnte.</p><lb/> <p>Na, machen Sie es nur nicht zu arg, Vetterchen; allzu scharf macht schartig, hab' ich immer gesagt, aber Ihre Scharte läßt sich wohl noch auswetzen. Jetzt nehmen Sie ein Täßchen Chokolade — es war ja immer Ihr Lieblingsgetränk.</p><lb/> <p>Ah, Sie erwarten Gesellschaft, rief der Vetter und wollte erschrocken die Flucht ergreifen.</p><lb/> <p>Ja wohl erwarte ich Gesellschaft, und sie ist schon da, Vetterchen, Sie sind es, den ich erwarte, und die Chokolade war schon alle die Tage her für Sie bereit. Ich wußte ja schon, daß es so kommen würde, wie es ge-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0118]
die gnädige Frau Gemahlin? Vielleicht drüben beim Großpapa?
Da schaute sie der Vetter mit seinen wasserblauen Augen so unsäglich wehmüthig und tiefsinnig an, schlug die Wimpern aber sofort wieder nieder wie in jungfräulicher Schüchternheit, daß die Conrectorin laut auflachen mußte.
Nun das muß ich sagen, Vetter, wie ein glücklicher Ehemann oder hoffnungsvoller Bräutigam sehen Sie nicht aus.
Nein, wie ein Esel — sagen Sie es nur ungenirt heraus, wie ein unsterblicher Esel in Folio, der ich bin! rief Vetter Isidor mit ausbrechendem Ingrimm und fuhr mit den gespreizten Fingern wieder durch die hobelspanblonden Locken, als wollte er sie sämmtlich ausreißen.
Da endlich stand die Conrectorin auf und klopfte ihm begütigend auf die Schultern, obgleich sie sich des Lachens immer noch nicht erwehren konnte.
Na, machen Sie es nur nicht zu arg, Vetterchen; allzu scharf macht schartig, hab' ich immer gesagt, aber Ihre Scharte läßt sich wohl noch auswetzen. Jetzt nehmen Sie ein Täßchen Chokolade — es war ja immer Ihr Lieblingsgetränk.
Ah, Sie erwarten Gesellschaft, rief der Vetter und wollte erschrocken die Flucht ergreifen.
Ja wohl erwarte ich Gesellschaft, und sie ist schon da, Vetterchen, Sie sind es, den ich erwarte, und die Chokolade war schon alle die Tage her für Sie bereit. Ich wußte ja schon, daß es so kommen würde, wie es ge-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T10:31:15Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T10:31:15Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |