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Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Dabei verblieb es denn auch. Das Reitpferd wurde zwar gesattelt, aber bald darauf wieder in den Stall geführt; endlich wurde sogar der Landarzt geholt, der eine sehr bedenkliche Miene machte, als er das Hofgut wieder verließ. Der alte Herr hatte aus lauter Alteration einen heftigen Gichtanfall bekommen und mußte das Bett hüten; von einer Verfolgung war keine Rede mehr.

Nachdenklich sah die Frau Conrectorin dieser Entwicklung der Dinge zu, und ein sonderbares Lächeln, eine stille Freudigkeit, ein sonntäglicher Glanz wollte nicht von ihrem Antlitz verschwinden. Das Vetterchen ein Entführer, das Vetterchen, das eigentlich nicht bis fünf zählen konnte; nein, was man nicht Alles erlebt auf dieser wunderlichen Welt! Dieser trockene, pappendeckelne Mensch weiß sich eine junge, schöne Frau wegzufischen -- nein, nein, aber etwas kann dabei doch nicht ganz richtig sein, etwas muß noch ein Geheimniß sein -- so sprach die Frau Conrectorin zu sich selbst in den ersten zwei Tagen, dann wartete sie noch zwei Tage -- aber es kam kein Brief und keine Kunde. Da wurde sie sichtlich ernster und ernster. Man konnte nicht sagen, daß es der Ernst der Sorge oder des Kummers sei, nein, es war ein Insichgekehrtsein, wie es wichtigen Lebensentscheidungen vorherzugehen pflegt. Oft in den Nachmittagsstunden kramte sie in alten Briefen und Papieren; sie suchte alte Stickereien und Stammbücher wieder vor, besserte auch einige Coeffuren wieder aus und durchmusterte alte, zurückgelegte Schmucksachen.

Dabei verblieb es denn auch. Das Reitpferd wurde zwar gesattelt, aber bald darauf wieder in den Stall geführt; endlich wurde sogar der Landarzt geholt, der eine sehr bedenkliche Miene machte, als er das Hofgut wieder verließ. Der alte Herr hatte aus lauter Alteration einen heftigen Gichtanfall bekommen und mußte das Bett hüten; von einer Verfolgung war keine Rede mehr.

Nachdenklich sah die Frau Conrectorin dieser Entwicklung der Dinge zu, und ein sonderbares Lächeln, eine stille Freudigkeit, ein sonntäglicher Glanz wollte nicht von ihrem Antlitz verschwinden. Das Vetterchen ein Entführer, das Vetterchen, das eigentlich nicht bis fünf zählen konnte; nein, was man nicht Alles erlebt auf dieser wunderlichen Welt! Dieser trockene, pappendeckelne Mensch weiß sich eine junge, schöne Frau wegzufischen — nein, nein, aber etwas kann dabei doch nicht ganz richtig sein, etwas muß noch ein Geheimniß sein — so sprach die Frau Conrectorin zu sich selbst in den ersten zwei Tagen, dann wartete sie noch zwei Tage — aber es kam kein Brief und keine Kunde. Da wurde sie sichtlich ernster und ernster. Man konnte nicht sagen, daß es der Ernst der Sorge oder des Kummers sei, nein, es war ein Insichgekehrtsein, wie es wichtigen Lebensentscheidungen vorherzugehen pflegt. Oft in den Nachmittagsstunden kramte sie in alten Briefen und Papieren; sie suchte alte Stickereien und Stammbücher wieder vor, besserte auch einige Coeffuren wieder aus und durchmusterte alte, zurückgelegte Schmucksachen.

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[0115] Dabei verblieb es denn auch. Das Reitpferd wurde zwar gesattelt, aber bald darauf wieder in den Stall geführt; endlich wurde sogar der Landarzt geholt, der eine sehr bedenkliche Miene machte, als er das Hofgut wieder verließ. Der alte Herr hatte aus lauter Alteration einen heftigen Gichtanfall bekommen und mußte das Bett hüten; von einer Verfolgung war keine Rede mehr. Nachdenklich sah die Frau Conrectorin dieser Entwicklung der Dinge zu, und ein sonderbares Lächeln, eine stille Freudigkeit, ein sonntäglicher Glanz wollte nicht von ihrem Antlitz verschwinden. Das Vetterchen ein Entführer, das Vetterchen, das eigentlich nicht bis fünf zählen konnte; nein, was man nicht Alles erlebt auf dieser wunderlichen Welt! Dieser trockene, pappendeckelne Mensch weiß sich eine junge, schöne Frau wegzufischen — nein, nein, aber etwas kann dabei doch nicht ganz richtig sein, etwas muß noch ein Geheimniß sein — so sprach die Frau Conrectorin zu sich selbst in den ersten zwei Tagen, dann wartete sie noch zwei Tage — aber es kam kein Brief und keine Kunde. Da wurde sie sichtlich ernster und ernster. Man konnte nicht sagen, daß es der Ernst der Sorge oder des Kummers sei, nein, es war ein Insichgekehrtsein, wie es wichtigen Lebensentscheidungen vorherzugehen pflegt. Oft in den Nachmittagsstunden kramte sie in alten Briefen und Papieren; sie suchte alte Stickereien und Stammbücher wieder vor, besserte auch einige Coeffuren wieder aus und durchmusterte alte, zurückgelegte Schmucksachen.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:31:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:31:15Z)

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Zitationshilfe: Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grosse_isidor_1910/115>, abgerufen am 24.11.2024.