Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

gleichgesetzt, die Reimverschlingung ganz beibehalten. Ich will
jedoch nicht verbürgen, daß in einem der siebenzeiligen Töne,
welche Büsching im N. lit. Anz. Col. 404 -- 406. anführt,
die Umformung unseres Tons enthalten sey. Denn diese Art
gehört zu den einfachsten mit und ließe sich durch Beispiele,
auch aus alten Minneliedern her, stark vermehren. Wenn an-
ders die Silben einstimmten, so schiene mir die Auflösung der
sechsten Zeile (der Waise) in eineu frühern Reim keine erheb-
liche Abweichung, zumal da einzelne Strophen im Titurel das
schon angeben 45) und sich die späteren Meister mit frühern
Tönen wohl noch mehr herausnahmen. Vielleicht wäre auch
unter den sechszeiligen zu suchen, ob nicht eine Schlußzeile lei-
det, in zwei gesondert zu werden.

Vierte Einwendung. (Leiche.)

Man hat über die Etymologie des Wortes Leich geschrie-
ben und ist auf eine so allgemeine und vage gerathen, daß
man gar nicht einmal nach Gedichten fragte, denen dieser Name
bei unsern alten Dichtern zukäme, um dann deren Form ge-
nauer zu betrachten. Der Ausdruck selbst kommt in Minne-
liedern fast gar nicht vor, außer bei dem Gliers 1. 43. Da-
für aber häufiger in gleichzeiligen erzählenden Gedichten, besen-
ders in Gottfrieds Tristan, (cf. 3395. 3402. 3496. 3466.
7948. 13212 u. 18967.) woraus man freilich ziehen können, das
Wort sey von dem Umdichter aus dem welschen, gleich so viel
andern offenbaren, beibehalten worden.

Ich verwerfe durchaus die Ableitung und Verwandtschaft
mit Lied, Liod, leudus und zwar wegen des in dieser Wurzel
characteristischen t oder d; dann aber, weil die Dichter des
dreizehnten Jahrhund. unter Leich genau etwas anderes verste-

45) Zu einiger Bestätigung der Wahrscheinlichkeit, daß Wolfram
selbst die sechste Zeile abgesetzt.

gleichgeſetzt, die Reimverſchlingung ganz beibehalten. Ich will
jedoch nicht verbuͤrgen, daß in einem der ſiebenzeiligen Toͤne,
welche Buͤſching im N. lit. Anz. Col. 404 — 406. anfuͤhrt,
die Umformung unſeres Tons enthalten ſey. Denn dieſe Art
gehoͤrt zu den einfachſten mit und ließe ſich durch Beiſpiele,
auch aus alten Minneliedern her, ſtark vermehren. Wenn an-
ders die Silben einſtimmten, ſo ſchiene mir die Aufloͤſung der
ſechsten Zeile (der Waiſe) in eineu fruͤhern Reim keine erheb-
liche Abweichung, zumal da einzelne Strophen im Titurel das
ſchon angeben 45) und ſich die ſpaͤteren Meiſter mit fruͤhern
Toͤnen wohl noch mehr herausnahmen. Vielleicht waͤre auch
unter den ſechszeiligen zu ſuchen, ob nicht eine Schlußzeile lei-
det, in zwei geſondert zu werden.

Vierte Einwendung. (Leiche.)

Man hat uͤber die Etymologie des Wortes Leich geſchrie-
ben und iſt auf eine ſo allgemeine und vage gerathen, daß
man gar nicht einmal nach Gedichten fragte, denen dieſer Name
bei unſern alten Dichtern zukaͤme, um dann deren Form ge-
nauer zu betrachten. Der Ausdruck ſelbſt kommt in Minne-
liedern faſt gar nicht vor, außer bei dem Gliers 1. 43. Da-
fuͤr aber haͤufiger in gleichzeiligen erzaͤhlenden Gedichten, beſen-
ders in Gottfrieds Triſtan, (cf. 3395. 3402. 3496. 3466.
7948. 13212 u. 18967.) woraus man freilich ziehen koͤnnen, das
Wort ſey von dem Umdichter aus dem welſchen, gleich ſo viel
andern offenbaren, beibehalten worden.

Ich verwerfe durchaus die Ableitung und Verwandtſchaft
mit Lied, Liod, leudus und zwar wegen des in dieſer Wurzel
characteriſtiſchen t oder d; dann aber, weil die Dichter des
dreizehnten Jahrhund. unter Leich genau etwas anderes verſte-

45) Zu einiger Beſtaͤtigung der Wahrſcheinlichkeit, daß Wolfram
ſelbſt die ſechste Zeile abgeſetzt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0073" n="63"/>
gleichge&#x017F;etzt, die Reimver&#x017F;chlingung ganz beibehalten. Ich will<lb/>
jedoch nicht verbu&#x0364;rgen, daß in einem der &#x017F;iebenzeiligen To&#x0364;ne,<lb/>
welche <hi rendition="#g">Bu&#x0364;&#x017F;ching</hi> im N. lit. Anz. Col. 404 &#x2014; 406. anfu&#x0364;hrt,<lb/>
die Umformung un&#x017F;eres Tons enthalten &#x017F;ey. Denn die&#x017F;e Art<lb/>
geho&#x0364;rt zu den einfach&#x017F;ten mit und ließe &#x017F;ich durch Bei&#x017F;piele,<lb/>
auch aus alten Minneliedern her, &#x017F;tark vermehren. Wenn an-<lb/>
ders die Silben ein&#x017F;timmten, &#x017F;o &#x017F;chiene mir die Auflo&#x0364;&#x017F;ung der<lb/>
&#x017F;echsten Zeile (der Wai&#x017F;e) in eineu fru&#x0364;hern Reim keine erheb-<lb/>
liche Abweichung, zumal da einzelne Strophen im Titurel das<lb/>
&#x017F;chon angeben <note place="foot" n="45)">Zu einiger Be&#x017F;ta&#x0364;tigung der Wahr&#x017F;cheinlichkeit, daß <hi rendition="#g">Wolfram</hi><lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die &#x017F;echste Zeile abge&#x017F;etzt.</note> und &#x017F;ich die &#x017F;pa&#x0364;teren Mei&#x017F;ter mit fru&#x0364;hern<lb/>
To&#x0364;nen wohl noch mehr herausnahmen. Vielleicht wa&#x0364;re auch<lb/>
unter den &#x017F;echszeiligen zu &#x017F;uchen, ob nicht eine Schlußzeile lei-<lb/>
det, in zwei ge&#x017F;ondert zu werden.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#g"><hi rendition="#fr">Vierte Einwendung</hi>. (Leiche.)</hi> </head><lb/>
              <p>Man hat u&#x0364;ber die Etymologie des Wortes Leich ge&#x017F;chrie-<lb/>
ben und i&#x017F;t auf eine &#x017F;o allgemeine und vage gerathen, daß<lb/>
man gar nicht einmal nach Gedichten fragte, denen die&#x017F;er Name<lb/>
bei un&#x017F;ern alten Dichtern zuka&#x0364;me, um dann deren Form ge-<lb/>
nauer zu betrachten. Der Ausdruck &#x017F;elb&#x017F;t kommt in Minne-<lb/>
liedern fa&#x017F;t gar nicht vor, außer bei dem Gliers 1. 43. Da-<lb/>
fu&#x0364;r aber ha&#x0364;ufiger in gleichzeiligen erza&#x0364;hlenden Gedichten, be&#x017F;en-<lb/>
ders in <hi rendition="#g">Gottfrieds</hi> Tri&#x017F;tan, (<hi rendition="#aq">cf.</hi> 3395. 3402. 3496. 3466.<lb/>
7948. 13212 u. 18967.) woraus man freilich ziehen ko&#x0364;nnen, das<lb/>
Wort &#x017F;ey von dem Umdichter aus dem wel&#x017F;chen, gleich &#x017F;o viel<lb/>
andern offenbaren, beibehalten worden.</p><lb/>
              <p>Ich verwerfe durchaus die Ableitung und Verwandt&#x017F;chaft<lb/>
mit Lied, Liod, <hi rendition="#aq">leudus</hi> und zwar wegen des in die&#x017F;er Wurzel<lb/>
characteri&#x017F;ti&#x017F;chen t oder d; dann aber, weil die Dichter des<lb/>
dreizehnten Jahrhund. unter Leich genau etwas anderes ver&#x017F;te-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0073] gleichgeſetzt, die Reimverſchlingung ganz beibehalten. Ich will jedoch nicht verbuͤrgen, daß in einem der ſiebenzeiligen Toͤne, welche Buͤſching im N. lit. Anz. Col. 404 — 406. anfuͤhrt, die Umformung unſeres Tons enthalten ſey. Denn dieſe Art gehoͤrt zu den einfachſten mit und ließe ſich durch Beiſpiele, auch aus alten Minneliedern her, ſtark vermehren. Wenn an- ders die Silben einſtimmten, ſo ſchiene mir die Aufloͤſung der ſechsten Zeile (der Waiſe) in eineu fruͤhern Reim keine erheb- liche Abweichung, zumal da einzelne Strophen im Titurel das ſchon angeben 45) und ſich die ſpaͤteren Meiſter mit fruͤhern Toͤnen wohl noch mehr herausnahmen. Vielleicht waͤre auch unter den ſechszeiligen zu ſuchen, ob nicht eine Schlußzeile lei- det, in zwei geſondert zu werden. Vierte Einwendung. (Leiche.) Man hat uͤber die Etymologie des Wortes Leich geſchrie- ben und iſt auf eine ſo allgemeine und vage gerathen, daß man gar nicht einmal nach Gedichten fragte, denen dieſer Name bei unſern alten Dichtern zukaͤme, um dann deren Form ge- nauer zu betrachten. Der Ausdruck ſelbſt kommt in Minne- liedern faſt gar nicht vor, außer bei dem Gliers 1. 43. Da- fuͤr aber haͤufiger in gleichzeiligen erzaͤhlenden Gedichten, beſen- ders in Gottfrieds Triſtan, (cf. 3395. 3402. 3496. 3466. 7948. 13212 u. 18967.) woraus man freilich ziehen koͤnnen, das Wort ſey von dem Umdichter aus dem welſchen, gleich ſo viel andern offenbaren, beibehalten worden. Ich verwerfe durchaus die Ableitung und Verwandtſchaft mit Lied, Liod, leudus und zwar wegen des in dieſer Wurzel characteriſtiſchen t oder d; dann aber, weil die Dichter des dreizehnten Jahrhund. unter Leich genau etwas anderes verſte- 45) Zu einiger Beſtaͤtigung der Wahrſcheinlichkeit, daß Wolfram ſelbſt die ſechste Zeile abgeſetzt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/73
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/73>, abgerufen am 22.11.2024.