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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Ich schlage vor, dergleichen Reime bloß zu unterstreichen,
da sie allerdings verstanden werden sollen und, wo sie nicht ins
Gesicht fallen, von unsern entwöhnten Ohren gewiß überhört
werden müssen. Zuweilen scheinen sie in der That unvernehm-
lich, zwölf und mehr Zeilen liegen dazwischen, und es muß
uns das Zwang und leere Spielerei seyn, was im Ursprung
leicht eine andere Bedeutung gehabt hat.

Ich möchte solche Reime Alliterationsreime nennen und
glaube, daß ihnen auch ein ähnliches Gefühl zum Grunde
liege, nur daß hier den Vocalen ganz die einschlagende Macht
der Consonanten übertragen ist, die Consonanten selbst aber
nicht alliteriren. Sollte hierin eine Spur altdeutscher Allite-
ration bis in spätere Zeiten gelangt seyn? 40)


40) Folgender Punct ist äußerst merkwürdig. In der seandinavi-
schen Poesie existirt ganz derselbe anomale Fall in den beiden
Sangarten Drottmällt und Togmällt, wo sich jedwede Zeile in
sich selbst reimt, und zwar 1) ohne daß diese Reime in das da-
neben bestehende Alliterationssystem eingriffen, denn sie können
gleichgültig an den alliterirenden Wörtern selbst oder an andern
angebracht werden, (eine höchst willkommene Analogie für die
Unabhängigkeit unserer deutschen Anomalie vom Princip des
Meistergesangs. 2) Die Reime sind unvollkommen, insofern
es mehr auf die Consonanten ankommt und alte Vocalen gleich-
bedeutend gebraucht werden können, (ein wahrer Gegensatz der
Assonanz -- und ein Beweis der Verwandtschaft mit der Alli-
teration, man könnte das Ganze eine verstärkte und versetzte
Alliteration nennen.) 3) Sie überschlagen nie und bleiben in
einer Zeile, worin eine Unähnlichkeit mit dem deutschen Fall;
allein in der nordischen Poesie war die Grundeinfachheit nie ver-
drängt worden, daß die alliterirenden Wörter noch beisammen
stehen müssen, Ueberschlagen ist ungebräuchlich, wie man aus
den Runhend sehen kann. In Deutschland mußte sich die Ano-
malie, gleich der übrigen Reimkunst, mehr Freiheit in der Stel-
lung und Versetzung nehmen, dafür aber auch die nordische
Willkürlichkeit der Vocalenaufgeben. Olafsen irrt, daß er das
Princip des Drott- und Togmällt dem Norden ausschließlich

Ich ſchlage vor, dergleichen Reime bloß zu unterſtreichen,
da ſie allerdings verſtanden werden ſollen und, wo ſie nicht ins
Geſicht fallen, von unſern entwoͤhnten Ohren gewiß uͤberhoͤrt
werden muͤſſen. Zuweilen ſcheinen ſie in der That unvernehm-
lich, zwoͤlf und mehr Zeilen liegen dazwiſchen, und es muß
uns das Zwang und leere Spielerei ſeyn, was im Urſprung
leicht eine andere Bedeutung gehabt hat.

Ich moͤchte ſolche Reime Alliterationsreime nennen und
glaube, daß ihnen auch ein aͤhnliches Gefuͤhl zum Grunde
liege, nur daß hier den Vocalen ganz die einſchlagende Macht
der Conſonanten uͤbertragen iſt, die Conſonanten ſelbſt aber
nicht alliteriren. Sollte hierin eine Spur altdeutſcher Allite-
ration bis in ſpaͤtere Zeiten gelangt ſeyn? 40)


40) Folgender Punct iſt aͤußerſt merkwuͤrdig. In der ſeandinavi-
ſchen Poeſie exiſtirt ganz derſelbe anomale Fall in den beiden
Sangarten Drottmaͤllt und Togmaͤllt, wo ſich jedwede Zeile in
ſich ſelbſt reimt, und zwar 1) ohne daß dieſe Reime in das da-
neben beſtehende Alliterationsſyſtem eingriffen, denn ſie koͤnnen
gleichguͤltig an den alliterirenden Woͤrtern ſelbſt oder an andern
angebracht werden, (eine hoͤchſt willkommene Analogie fuͤr die
Unabhaͤngigkeit unſerer deutſchen Anomalie vom Princip des
Meiſtergeſangs. 2) Die Reime ſind unvollkommen, inſofern
es mehr auf die Conſonanten ankommt und alte Vocalen gleich-
bedeutend gebraucht werden koͤnnen, (ein wahrer Gegenſatz der
Aſſonanz — und ein Beweis der Verwandtſchaft mit der Alli-
teration, man koͤnnte das Ganze eine verſtaͤrkte und verſetzte
Alliteration nennen.) 3) Sie uͤberſchlagen nie und bleiben in
einer Zeile, worin eine Unaͤhnlichkeit mit dem deutſchen Fall;
allein in der nordiſchen Poeſie war die Grundeinfachheit nie ver-
draͤngt worden, daß die alliterirenden Woͤrter noch beiſammen
ſtehen muͤſſen, Ueberſchlagen iſt ungebraͤuchlich, wie man aus
den Runhend ſehen kann. In Deutſchland mußte ſich die Ano-
malie, gleich der uͤbrigen Reimkunſt, mehr Freiheit in der Stel-
lung und Verſetzung nehmen, dafuͤr aber auch die nordiſche
Willkuͤrlichkeit der Vocalenaufgeben. Olafſen irrt, daß er das
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[55/0065] Ich ſchlage vor, dergleichen Reime bloß zu unterſtreichen, da ſie allerdings verſtanden werden ſollen und, wo ſie nicht ins Geſicht fallen, von unſern entwoͤhnten Ohren gewiß uͤberhoͤrt werden muͤſſen. Zuweilen ſcheinen ſie in der That unvernehm- lich, zwoͤlf und mehr Zeilen liegen dazwiſchen, und es muß uns das Zwang und leere Spielerei ſeyn, was im Urſprung leicht eine andere Bedeutung gehabt hat. Ich moͤchte ſolche Reime Alliterationsreime nennen und glaube, daß ihnen auch ein aͤhnliches Gefuͤhl zum Grunde liege, nur daß hier den Vocalen ganz die einſchlagende Macht der Conſonanten uͤbertragen iſt, die Conſonanten ſelbſt aber nicht alliteriren. Sollte hierin eine Spur altdeutſcher Allite- ration bis in ſpaͤtere Zeiten gelangt ſeyn? 40) 40) Folgender Punct iſt aͤußerſt merkwuͤrdig. In der ſeandinavi- ſchen Poeſie exiſtirt ganz derſelbe anomale Fall in den beiden Sangarten Drottmaͤllt und Togmaͤllt, wo ſich jedwede Zeile in ſich ſelbſt reimt, und zwar 1) ohne daß dieſe Reime in das da- neben beſtehende Alliterationsſyſtem eingriffen, denn ſie koͤnnen gleichguͤltig an den alliterirenden Woͤrtern ſelbſt oder an andern angebracht werden, (eine hoͤchſt willkommene Analogie fuͤr die Unabhaͤngigkeit unſerer deutſchen Anomalie vom Princip des Meiſtergeſangs. 2) Die Reime ſind unvollkommen, inſofern es mehr auf die Conſonanten ankommt und alte Vocalen gleich- bedeutend gebraucht werden koͤnnen, (ein wahrer Gegenſatz der Aſſonanz — und ein Beweis der Verwandtſchaft mit der Alli- teration, man koͤnnte das Ganze eine verſtaͤrkte und verſetzte Alliteration nennen.) 3) Sie uͤberſchlagen nie und bleiben in einer Zeile, worin eine Unaͤhnlichkeit mit dem deutſchen Fall; allein in der nordiſchen Poeſie war die Grundeinfachheit nie ver- draͤngt worden, daß die alliterirenden Woͤrter noch beiſammen ſtehen muͤſſen, Ueberſchlagen iſt ungebraͤuchlich, wie man aus den Runhend ſehen kann. In Deutſchland mußte ſich die Ano- malie, gleich der uͤbrigen Reimkunſt, mehr Freiheit in der Stel- lung und Verſetzung nehmen, dafuͤr aber auch die nordiſche Willkuͤrlichkeit der Vocalenaufgeben. Olafſen irrt, daß er das Princip des Drott- und Togmaͤllt dem Norden ausſchließlich

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/65>, abgerufen am 22.11.2024.