Der Druck meines vor länger als einem halben Jahr fer- tig geschriebenen Buchs verzögerte sich ohne meine Schuld bis jetzt, wo gerade ein wichtiger Aufsatz in dem erst dieser Tage in unsere Gegend angekommenen dritten Heft des altd. Mus- erscheint, so daß ich jenes nicht ausgeben lassen mag, ohne dar- über mein Urtheil kürzlich beyzufügen. Herr Prof. von der Hagen hat darin schätzbare, wohl schon lang in seinem Besitz gewesene Nachrichten über den Colmarer Codex bekannt gemacht, und was zu erwarten stand, mit aller Gelehrsamkeit verarbeitet. Sicher hätte ich diese Abhandlung in der meinigen häufiger zu benutzen und anzuführen gehabt, als seine frühere, deren bloßes Resultat in meiner Anmerk. 202. niedergelegt worden ist. Hält man nun dieses zu der Ausbeute seines weiteren Studiums, so sieht man wohl, daß er jetzo nicht mehr, wie damals geschrie- ben haben würde. Aeußerlich zwar bekennt er sich genau zu dem Meistersinger- und Meistersängersystem, dessen Nullität aus der Sache eben so sehr, als aus den Namen hervorleuchtet, es hielte ordentlich schwer etwas zu erdenken, womit die erstere sich so füglich vergleichen ließe, wie mit der letzteren, durch deren Erfindung mir meine Gegner glücklich zu Hülfe gekommen sind. Von der Hagen berührt hier eigentlich nur eine Seite der Sa- che, das Verhältniß seiner Meistersinger zu seinen Meistersängern, dasjenige der Meister- zu den Minnesängern hat er (absicht- lich?) liegen gelassen; gleichwie aber aus dem, was er auf- stellt, unleugbar die innige Verwandtschaft der Singer zu den Sängern fließt, so wird sich auch aus dem von mir Erläuter- ten die zwischen minne- und meistersingenden Hofdichtern erge- ben. Welche gesunde Critik kann einen Augenblick, nach Lesung des hier Num. X. abgedruckten Lieds Conrads von Wirzburg anstehen, ihn für einen eben so ausgemachten, eigentlichen, ja eigentlichen Meistersänger zu halten, als er aus andern gleich dauerhaften Ursachen ein Minnesänger ist? Es wäre eine rechte Kläglichkeit, der Wahrheitsliebe und Scharfsinnigkeit von der Hagens und Docens unwürdig, wenn sie im Grund das- selbe glauben müssend und schon jetzt darlegend, noch länger ein scheinbares Gegentheil behaupten und sich dabei ähnlicher Wen- dungen behelfen wollten, als hier ersterer thut, indem er z. B. Conrad, Frauenlob, Regenbogen "Vorgänger" des Meisterge- sangs nennt (S 156. 197.) Das sind sie freilich immerhin, und wenn es schon drei hundert Jahre nichts als lauter eigent- lichste Meister gegeben hätte, weil sie nun einmal vor den späte- ren gelebt haben, nur aber ist der Ausdruck etwa eben so tref-
N
Zweiter Nachtrag.
(Geſchrieben am 12. Februar 1811.)
Der Druck meines vor laͤnger als einem halben Jahr fer- tig geſchriebenen Buchs verzoͤgerte ſich ohne meine Schuld bis jetzt, wo gerade ein wichtiger Aufſatz in dem erſt dieſer Tage in unſere Gegend angekommenen dritten Heft des altd. Muſ- erſcheint, ſo daß ich jenes nicht ausgeben laſſen mag, ohne dar- uͤber mein Urtheil kuͤrzlich beyzufuͤgen. Herr Prof. von der Hagen hat darin ſchaͤtzbare, wohl ſchon lang in ſeinem Beſitz geweſene Nachrichten uͤber den Colmarer Codex bekannt gemacht, und was zu erwarten ſtand, mit aller Gelehrſamkeit verarbeitet. Sicher haͤtte ich dieſe Abhandlung in der meinigen haͤufiger zu benutzen und anzufuͤhren gehabt, als ſeine fruͤhere, deren bloßes Reſultat in meiner Anmerk. 202. niedergelegt worden iſt. Haͤlt man nun dieſes zu der Ausbeute ſeines weiteren Studiums, ſo ſieht man wohl, daß er jetzo nicht mehr, wie damals geſchrie- ben haben wuͤrde. Aeußerlich zwar bekennt er ſich genau zu dem Meiſterſinger- und Meiſterſaͤngerſyſtem, deſſen Nullitaͤt aus der Sache eben ſo ſehr, als aus den Namen hervorleuchtet, es hielte ordentlich ſchwer etwas zu erdenken, womit die erſtere ſich ſo fuͤglich vergleichen ließe, wie mit der letzteren, durch deren Erfindung mir meine Gegner gluͤcklich zu Huͤlfe gekommen ſind. Von der Hagen beruͤhrt hier eigentlich nur eine Seite der Sa- che, das Verhaͤltniß ſeiner Meiſterſinger zu ſeinen Meiſterſaͤngern, dasjenige der Meiſter- zu den Minneſaͤngern hat er (abſicht- lich?) liegen gelaſſen; gleichwie aber aus dem, was er auf- ſtellt, unleugbar die innige Verwandtſchaft der Singer zu den Saͤngern fließt, ſo wird ſich auch aus dem von mir Erlaͤuter- ten die zwiſchen minne- und meiſterſingenden Hofdichtern erge- ben. Welche geſunde Critik kann einen Augenblick, nach Leſung des hier Num. X. abgedruckten Lieds Conrads von Wirzburg anſtehen, ihn fuͤr einen eben ſo ausgemachten, eigentlichen, ja eigentlichen Meiſterſaͤnger zu halten, als er aus andern gleich dauerhaften Urſachen ein Minneſaͤnger iſt? Es waͤre eine rechte Klaͤglichkeit, der Wahrheitsliebe und Scharfſinnigkeit von der Hagens und Docens unwuͤrdig, wenn ſie im Grund das- ſelbe glauben muͤſſend und ſchon jetzt darlegend, noch laͤnger ein ſcheinbares Gegentheil behaupten und ſich dabei aͤhnlicher Wen- dungen behelfen wollten, als hier erſterer thut, indem er z. B. Conrad, Frauenlob, Regenbogen „Vorgaͤnger“ des Meiſterge- ſangs nennt (S 156. 197.) Das ſind ſie freilich immerhin, und wenn es ſchon drei hundert Jahre nichts als lauter eigent- lichſte Meiſter gegeben haͤtte, weil ſie nun einmal vor den ſpaͤte- ren gelebt haben, nur aber iſt der Ausdruck etwa eben ſo tref-
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(Geſchrieben am 12. Februar 1811.)
Der Druck meines vor laͤnger als einem halben Jahr fer-
tig geſchriebenen Buchs verzoͤgerte ſich ohne meine Schuld bis
jetzt, wo gerade ein wichtiger Aufſatz in dem erſt dieſer Tage
in unſere Gegend angekommenen dritten Heft des altd. Muſ-
erſcheint, ſo daß ich jenes nicht ausgeben laſſen mag, ohne dar-
uͤber mein Urtheil kuͤrzlich beyzufuͤgen. Herr Prof. von der
Hagen hat darin ſchaͤtzbare, wohl ſchon lang in ſeinem Beſitz
geweſene Nachrichten uͤber den Colmarer Codex bekannt gemacht,
und was zu erwarten ſtand, mit aller Gelehrſamkeit verarbeitet.
Sicher haͤtte ich dieſe Abhandlung in der meinigen haͤufiger zu
benutzen und anzufuͤhren gehabt, als ſeine fruͤhere, deren bloßes
Reſultat in meiner Anmerk. 202. niedergelegt worden iſt. Haͤlt
man nun dieſes zu der Ausbeute ſeines weiteren Studiums, ſo
ſieht man wohl, daß er jetzo nicht mehr, wie damals geſchrie-
ben haben wuͤrde. Aeußerlich zwar bekennt er ſich genau zu dem
Meiſterſinger- und Meiſterſaͤngerſyſtem, deſſen Nullitaͤt aus der
Sache eben ſo ſehr, als aus den Namen hervorleuchtet, es
hielte ordentlich ſchwer etwas zu erdenken, womit die erſtere ſich
ſo fuͤglich vergleichen ließe, wie mit der letzteren, durch deren
Erfindung mir meine Gegner gluͤcklich zu Huͤlfe gekommen ſind.
Von der Hagen beruͤhrt hier eigentlich nur eine Seite der Sa-
che, das Verhaͤltniß ſeiner Meiſterſinger zu ſeinen Meiſterſaͤngern,
dasjenige der Meiſter- zu den Minneſaͤngern hat er (abſicht-
lich?) liegen gelaſſen; gleichwie aber aus dem, was er auf-
ſtellt, unleugbar die innige Verwandtſchaft der Singer zu den
Saͤngern fließt, ſo wird ſich auch aus dem von mir Erlaͤuter-
ten die zwiſchen minne- und meiſterſingenden Hofdichtern erge-
ben. Welche geſunde Critik kann einen Augenblick, nach Leſung
des hier Num. X. abgedruckten Lieds Conrads von Wirzburg
anſtehen, ihn fuͤr einen eben ſo ausgemachten, eigentlichen, ja
eigentlichen Meiſterſaͤnger zu halten, als er aus andern gleich
dauerhaften Urſachen ein Minneſaͤnger iſt? Es waͤre eine rechte
Klaͤglichkeit, der Wahrheitsliebe und Scharfſinnigkeit von der
Hagens und Docens unwuͤrdig, wenn ſie im Grund das-
ſelbe glauben muͤſſend und ſchon jetzt darlegend, noch laͤnger ein
ſcheinbares Gegentheil behaupten und ſich dabei aͤhnlicher Wen-
dungen behelfen wollten, als hier erſterer thut, indem er z. B.
Conrad, Frauenlob, Regenbogen „Vorgaͤnger“ des Meiſterge-
ſangs nennt (S 156. 197.) Das ſind ſie freilich immerhin,
und wenn es ſchon drei hundert Jahre nichts als lauter eigent-
lichſte Meiſter gegeben haͤtte, weil ſie nun einmal vor den ſpaͤte-
ren gelebt haben, nur aber iſt der Ausdruck etwa eben ſo tref-
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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/199>, abgerufen am 03.03.2025.
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