Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.Da der Weinbau sein eigenes Erdreich und eine besondere det sich auf nichts, als einen Versuch Wolfh. Spangenbergs dem Meistergesang durch Luthern, oder Luthern durch den Mei- stergesang eine Ehre zu bereiten. 118) Was ich dem nördlichen Deutschland dadurch abspreche, wird
auf der andern Seite vergütet, daß die volksmäßige Dichtkunst (und wohl eben aus diesem Grunde, weßhalb die Bemerkung nicht ungehörig) daselbst wirksamer fortgeblüht. Man sehe den Ogier, Valentin und Namelos, Flos und Blankfloße etc. Auch sagenreicher scheint im Ganzen der nördliche Theil, das Harz- volk weiß viel mehr und besser zu erzählen, als die singenden Hirten der Alpen und Tirols. Da der Weinbau ſein eigenes Erdreich und eine beſondere det ſich auf nichts, als einen Verſuch Wolfh. Spangenbergs dem Meiſtergeſang durch Luthern, oder Luthern durch den Mei- ſtergeſang eine Ehre zu bereiten. 118) Was ich dem noͤrdlichen Deutſchland dadurch abſpreche, wird
auf der andern Seite verguͤtet, daß die volksmaͤßige Dichtkunſt (und wohl eben aus dieſem Grunde, weßhalb die Bemerkung nicht ungehoͤrig) daſelbſt wirkſamer fortgebluͤht. Man ſehe den Ogier, Valentin und Namelos, Flos und Blankfloße ꝛc. Auch ſagenreicher ſcheint im Ganzen der noͤrdliche Theil, das Harz- volk weiß viel mehr und beſſer zu erzaͤhlen, als die ſingenden Hirten der Alpen und Tirols. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0140" n="130"/> <p>Da der Weinbau ſein eigenes Erdreich und eine beſondere<lb/> Luft und Sonne begehrt, ſo daß er ſchon die ganze Zeit in<lb/> Deutſchland ſeine alten Grenzen nicht uͤberſchritten hat, warum<lb/> ſoll ſich nicht auch eine Sitte, eine aͤußere Geſtalt der Poeſie<lb/> nur in einer urſpruͤnglichen Gegend fort aufhalten? Man er-<lb/> kennt zwei Nationen ihre eigenthuͤmliche Sprache und Land-<lb/> ſchaften ihren eigenen Dialect zu, und hart und auf einmal<lb/> ſchneidet die Grenze ab. So wie wir aber noch in heutigen<lb/> Mundarten auf Eigenthuͤmlichkeiten ſtoßen, die ein altes Ge-<lb/> dicht an ſich traͤgt und ihm ſomit ſein Vaterland ausmitteln,<lb/> ſo erkenne ich auch in der aͤußeren Stelle des ſpaͤten Meiſter-<lb/> ſangs ſeine innige Verbindung mit dem alten <note place="foot" n="118)">Was ich dem noͤrdlichen Deutſchland dadurch abſpreche, wird<lb/> auf der andern Seite verguͤtet, daß die volksmaͤßige Dichtkunſt<lb/> (und wohl eben aus dieſem Grunde, weßhalb die Bemerkung<lb/> nicht ungehoͤrig) daſelbſt wirkſamer fortgebluͤht. Man ſehe den<lb/> Ogier, Valentin und Namelos, Flos und Blankfloße ꝛc. Auch<lb/> ſagenreicher ſcheint im Ganzen der noͤrdliche Theil, das Harz-<lb/> volk weiß viel mehr und beſſer zu erzaͤhlen, als die ſingenden<lb/> Hirten der Alpen und Tirols.</note>. Die Blu-<lb/> menſpiele zu Toulouſe, der letzte Reſt provenzaliſcher Poeſie<lb/> behielten ſich denſelben Ort, wo ſie vor Alters ſo lebhaft ge-<lb/> bluͤht hatte.</p><lb/> <p> <note xml:id="seg2pn_10_2" prev="#seg2pn_10_1" place="foot" n="117)">det ſich auf nichts, als einen Verſuch Wolfh. Spangenbergs<lb/> dem Meiſtergeſang durch Luthern, oder Luthern durch den Mei-<lb/> ſtergeſang eine Ehre zu bereiten.</note> </p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [130/0140]
Da der Weinbau ſein eigenes Erdreich und eine beſondere
Luft und Sonne begehrt, ſo daß er ſchon die ganze Zeit in
Deutſchland ſeine alten Grenzen nicht uͤberſchritten hat, warum
ſoll ſich nicht auch eine Sitte, eine aͤußere Geſtalt der Poeſie
nur in einer urſpruͤnglichen Gegend fort aufhalten? Man er-
kennt zwei Nationen ihre eigenthuͤmliche Sprache und Land-
ſchaften ihren eigenen Dialect zu, und hart und auf einmal
ſchneidet die Grenze ab. So wie wir aber noch in heutigen
Mundarten auf Eigenthuͤmlichkeiten ſtoßen, die ein altes Ge-
dicht an ſich traͤgt und ihm ſomit ſein Vaterland ausmitteln,
ſo erkenne ich auch in der aͤußeren Stelle des ſpaͤten Meiſter-
ſangs ſeine innige Verbindung mit dem alten 118). Die Blu-
menſpiele zu Toulouſe, der letzte Reſt provenzaliſcher Poeſie
behielten ſich denſelben Ort, wo ſie vor Alters ſo lebhaft ge-
bluͤht hatte.
117)
118) Was ich dem noͤrdlichen Deutſchland dadurch abſpreche, wird
auf der andern Seite verguͤtet, daß die volksmaͤßige Dichtkunſt
(und wohl eben aus dieſem Grunde, weßhalb die Bemerkung
nicht ungehoͤrig) daſelbſt wirkſamer fortgebluͤht. Man ſehe den
Ogier, Valentin und Namelos, Flos und Blankfloße ꝛc. Auch
ſagenreicher ſcheint im Ganzen der noͤrdliche Theil, das Harz-
volk weiß viel mehr und beſſer zu erzaͤhlen, als die ſingenden
Hirten der Alpen und Tirols.
117) det ſich auf nichts, als einen Verſuch Wolfh. Spangenbergs
dem Meiſtergeſang durch Luthern, oder Luthern durch den Mei-
ſtergeſang eine Ehre zu bereiten.
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