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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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zu seyn. Das Mär prüfen kommt mehrmals im Titurel vor,
(1139. 2099. 4470. 5314.) aber auch schon in der Klage, (ed.
Bodmer v. 192. 4424.) Hadloub a. a. O. spricht vom Prüfen
des Meistergesangs. Frauenlob (2. 216.) sagt deutlich: "das
prüf ein Mann der dichten kann", und: "nach prüfen wär ein
Singen gut" nach der Lesart des Weim. Cod. Bei Maneße
2. 218. stehet dafür: "bi pfiffen were ein swigen gut." Ul-
rich von Wintersteten (1. 61.): "prüve er wol swer tihten
kunne", wofür Benecke noch besser: "rihten" liest. Denn es
ist wohl zu denken, daß die Merker oder Prüfer, sobald sie
vermuthlich für den einzelnen Fall gesetzt worden waren, eine
Art von richterlichem Ansehen und Entscheidung bekamen, wel-
ches auch die im Wartburger Krieg erwählten Kieser bestäti-
gen 82).

Um aber auf das klarste in dem Beispiel der Merker dar-
zuthun, daß die Anordnung meistersängerischer Gebräuche auf
die freiesten Zeiten und Gelegenheiten der Ritterpoesie zurück-
geführt werden könne und müsse, nehme ich einen Beweis aus
der Geschichte fremder Dichtkunst her 82 b). In der 61sten
der cento novelle antiche, einer wahrscheinlich schon vor
Boccaccio verfaßten Sammlung, die uns wenigstens eine Menge
altitalienischer für die Poesie merkwürdiger Anecdoten bewahrt,
findet sich eine den Ritter und Dichter Messer (Herr) Alamanno
angehende Erzählung. Der Troubadour wußte die schwere Auf-
gabe seiner erzürnten Dame äußerst sinnreich zu lösen und zu

82) Walter 1. 116. vom Merken des Sangs und Kiesen. Auch
des Goldeners letzte Strophe verdient für die Existenz der Mer-
ker nachgelesen zu werden.
82 b) Und erinnere an die alte indische Sage von Calidas, der vor
dem Preis aussetzenden Raia, die von seinen Nebenbuhlern be-
strittenen Verse auf Steine schreibt und in das Wasser wirft,
die rechten schwimmen oben, die falschen sollen untergehen.
Polier 1. 186. 187.

zu ſeyn. Das Maͤr pruͤfen kommt mehrmals im Titurel vor,
(1139. 2099. 4470. 5314.) aber auch ſchon in der Klage, (ed.
Bodmer v. 192. 4424.) Hadloub a. a. O. ſpricht vom Pruͤfen
des Meiſtergeſangs. Frauenlob (2. 216.) ſagt deutlich: „das
pruͤf ein Mann der dichten kann“, und: „nach pruͤfen waͤr ein
Singen gut“ nach der Lesart des Weim. Cod. Bei Maneße
2. 218. ſtehet dafuͤr: „bi pfiffen were ein ſwigen gut.“ Ul-
rich von Winterſteten (1. 61.): „pruͤve er wol ſwer tihten
kunne“, wofuͤr Benecke noch beſſer: „rihten“ lieſt. Denn es
iſt wohl zu denken, daß die Merker oder Pruͤfer, ſobald ſie
vermuthlich fuͤr den einzelnen Fall geſetzt worden waren, eine
Art von richterlichem Anſehen und Entſcheidung bekamen, wel-
ches auch die im Wartburger Krieg erwaͤhlten Kieſer beſtaͤti-
gen 82).

Um aber auf das klarſte in dem Beiſpiel der Merker dar-
zuthun, daß die Anordnung meiſterſaͤngeriſcher Gebraͤuche auf
die freieſten Zeiten und Gelegenheiten der Ritterpoeſie zuruͤck-
gefuͤhrt werden koͤnne und muͤſſe, nehme ich einen Beweis aus
der Geſchichte fremder Dichtkunſt her 82 b). In der 61ſten
der cento novelle antiche, einer wahrſcheinlich ſchon vor
Boccaccio verfaßten Sammlung, die uns wenigſtens eine Menge
altitalieniſcher fuͤr die Poeſie merkwuͤrdiger Anecdoten bewahrt,
findet ſich eine den Ritter und Dichter Messer (Herr) Alamaño
angehende Erzaͤhlung. Der Troubadour wußte die ſchwere Auf-
gabe ſeiner erzuͤrnten Dame aͤußerſt ſinnreich zu loͤſen und zu

82) Walter 1. 116. vom Merken des Sangs und Kieſen. Auch
des Goldeners letzte Strophe verdient fuͤr die Exiſtenz der Mer-
ker nachgeleſen zu werden.
82 b) Und erinnere an die alte indiſche Sage von Calidas, der vor
dem Preis ausſetzenden Raia, die von ſeinen Nebenbuhlern be-
ſtrittenen Verſe auf Steine ſchreibt und in das Waſſer wirft,
die rechten ſchwimmen oben, die falſchen ſollen untergehen.
Polier 1. 186. 187.
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[95/0105] zu ſeyn. Das Maͤr pruͤfen kommt mehrmals im Titurel vor, (1139. 2099. 4470. 5314.) aber auch ſchon in der Klage, (ed. Bodmer v. 192. 4424.) Hadloub a. a. O. ſpricht vom Pruͤfen des Meiſtergeſangs. Frauenlob (2. 216.) ſagt deutlich: „das pruͤf ein Mann der dichten kann“, und: „nach pruͤfen waͤr ein Singen gut“ nach der Lesart des Weim. Cod. Bei Maneße 2. 218. ſtehet dafuͤr: „bi pfiffen were ein ſwigen gut.“ Ul- rich von Winterſteten (1. 61.): „pruͤve er wol ſwer tihten kunne“, wofuͤr Benecke noch beſſer: „rihten“ lieſt. Denn es iſt wohl zu denken, daß die Merker oder Pruͤfer, ſobald ſie vermuthlich fuͤr den einzelnen Fall geſetzt worden waren, eine Art von richterlichem Anſehen und Entſcheidung bekamen, wel- ches auch die im Wartburger Krieg erwaͤhlten Kieſer beſtaͤti- gen 82). Um aber auf das klarſte in dem Beiſpiel der Merker dar- zuthun, daß die Anordnung meiſterſaͤngeriſcher Gebraͤuche auf die freieſten Zeiten und Gelegenheiten der Ritterpoeſie zuruͤck- gefuͤhrt werden koͤnne und muͤſſe, nehme ich einen Beweis aus der Geſchichte fremder Dichtkunſt her 82 b). In der 61ſten der cento novelle antiche, einer wahrſcheinlich ſchon vor Boccaccio verfaßten Sammlung, die uns wenigſtens eine Menge altitalieniſcher fuͤr die Poeſie merkwuͤrdiger Anecdoten bewahrt, findet ſich eine den Ritter und Dichter Messer (Herr) Alamaño angehende Erzaͤhlung. Der Troubadour wußte die ſchwere Auf- gabe ſeiner erzuͤrnten Dame aͤußerſt ſinnreich zu loͤſen und zu 82) Walter 1. 116. vom Merken des Sangs und Kieſen. Auch des Goldeners letzte Strophe verdient fuͤr die Exiſtenz der Mer- ker nachgeleſen zu werden. 82 b) Und erinnere an die alte indiſche Sage von Calidas, der vor dem Preis ausſetzenden Raia, die von ſeinen Nebenbuhlern be- ſtrittenen Verſe auf Steine ſchreibt und in das Waſſer wirft, die rechten ſchwimmen oben, die falſchen ſollen untergehen. Polier 1. 186. 187.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/105>, abgerufen am 24.11.2024.