Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst daß ich dankbar bin, so verspreche ich dir daß ich dich nicht unversehens überfallen sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole.' 'Wohlan,' sprach der Jüngling, 'immer ein Gewinn, daß ich weiß wann du kommst und so lange wenigstens sicher vor dir bin.' Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tag plagten und ihm Nachts die Ruhe wegnahmen. 'Sterben werde ich nicht,' sprach er zu sich selbst, 'denn der Tod sendet erst seine Boten, ich wollte nur die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber.' Sobald er sich gesund fühlte, fieng er wieder an in Freuden zu leben. Da klopfte ihn eines Tags jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach 'folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.' 'Wie,' antwortete der Mensch, 'willst du dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen daß du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen.' 'Schweig,' erwiederte der Tod, 'habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dirs nicht in den Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? ward dirs nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?' Der Mensch wußte nichts zu erwiedern, ergab sich in sein Geschick und gieng mit dem Tode fort.



keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst daß ich dankbar bin, so verspreche ich dir daß ich dich nicht unversehens überfallen sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole.’ ‘Wohlan,’ sprach der Jüngling, ‘immer ein Gewinn, daß ich weiß wann du kommst und so lange wenigstens sicher vor dir bin.’ Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tag plagten und ihm Nachts die Ruhe wegnahmen. ‘Sterben werde ich nicht,’ sprach er zu sich selbst, ‘denn der Tod sendet erst seine Boten, ich wollte nur die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber.’ Sobald er sich gesund fühlte, fieng er wieder an in Freuden zu leben. Da klopfte ihn eines Tags jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach ‘folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.’ ‘Wie,’ antwortete der Mensch, ‘willst du dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen daß du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen.’ ‘Schweig,’ erwiederte der Tod, ‘habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dirs nicht in den Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? ward dirs nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?’ Der Mensch wußte nichts zu erwiedern, ergab sich in sein Geschick und gieng mit dem Tode fort.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0369" n="357"/>
keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst daß ich dankbar bin, so verspreche ich dir daß ich dich nicht unversehens überfallen sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole.&#x2019; &#x2018;Wohlan,&#x2019; sprach der Jüngling, &#x2018;immer ein Gewinn, daß ich weiß wann du kommst und so lange wenigstens sicher vor dir bin.&#x2019; Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tag plagten und ihm Nachts die Ruhe wegnahmen. &#x2018;Sterben werde ich nicht,&#x2019; sprach er zu sich selbst, &#x2018;denn der Tod sendet erst seine Boten, ich wollte nur die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber.&#x2019; Sobald er sich gesund fühlte, fieng er wieder an in Freuden zu leben. Da klopfte ihn eines Tags jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach &#x2018;folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.&#x2019; &#x2018;Wie,&#x2019; antwortete der Mensch, &#x2018;willst du dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen daß du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen.&#x2019; &#x2018;Schweig,&#x2019; erwiederte der Tod, &#x2018;habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dirs nicht in den Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? ward dirs nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?&#x2019; Der Mensch wußte nichts zu erwiedern, ergab sich in sein Geschick und gieng mit dem Tode fort.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[357/0369] keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst daß ich dankbar bin, so verspreche ich dir daß ich dich nicht unversehens überfallen sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole.’ ‘Wohlan,’ sprach der Jüngling, ‘immer ein Gewinn, daß ich weiß wann du kommst und so lange wenigstens sicher vor dir bin.’ Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tag plagten und ihm Nachts die Ruhe wegnahmen. ‘Sterben werde ich nicht,’ sprach er zu sich selbst, ‘denn der Tod sendet erst seine Boten, ich wollte nur die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber.’ Sobald er sich gesund fühlte, fieng er wieder an in Freuden zu leben. Da klopfte ihn eines Tags jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach ‘folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.’ ‘Wie,’ antwortete der Mensch, ‘willst du dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen daß du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen.’ ‘Schweig,’ erwiederte der Tod, ‘habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dirs nicht in den Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? ward dirs nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?’ Der Mensch wußte nichts zu erwiedern, ergab sich in sein Geschick und gieng mit dem Tode fort.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books (Harvard University): Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-08T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/369
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/369>, abgerufen am 25.11.2024.