Ein Kind saß vor der Hausthüre auf der Erde, und hatte sein Schüsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich, und aß. Da kam eine Unke gekrochen, und senkte ihr Köpfchen in die Schüssel, und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder, und so eine Zeitlang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah daß die Unke immerfort bloß die Milch trank, und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Löffelchen, schlug ihr ganz sanft auf den Kopf, und sagte 'Ding, iß auch Brocken.' Seine Mutter aber hörte daß es mit jemand sprach, kam heran, und als sie die Unke erblickte, schlug sie sie todt. Und das Kind, das, seit die Unke mit ihm gegessen hatte, schön und groß geworden war, magerte ab von dem Augenblicke an, und starb bald darauf.
II.
Ein Waisenkind saß an der Stadtmauer und spann, und sah eine Unke her kommen. Da breitete es ein blau seiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben, und auf das sie allein gehen, neben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte
105. Maͤrchen von der Unke.
I.
Ein Kind saß vor der Hausthuͤre auf der Erde, und hatte sein Schuͤsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich, und aß. Da kam eine Unke gekrochen, und senkte ihr Koͤpfchen in die Schuͤssel, und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder, und so eine Zeitlang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah daß die Unke immerfort bloß die Milch trank, und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Loͤffelchen, schlug ihr ganz sanft auf den Kopf, und sagte ‘Ding, iß auch Brocken.’ Seine Mutter aber hoͤrte daß es mit jemand sprach, kam heran, und als sie die Unke erblickte, schlug sie sie todt. Und das Kind, das, seit die Unke mit ihm gegessen hatte, schoͤn und groß geworden war, magerte ab von dem Augenblicke an, und starb bald darauf.
II.
Ein Waisenkind saß an der Stadtmauer und spann, und sah eine Unke her kommen. Da breitete es ein blau seiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben, und auf das sie allein gehen, neben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte
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105.
Maͤrchen von der Unke.
I.
Ein Kind saß vor der Hausthuͤre auf der Erde, und hatte sein Schuͤsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich, und aß. Da kam eine Unke gekrochen, und senkte ihr Koͤpfchen in die Schuͤssel, und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder, und so eine Zeitlang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah daß die Unke immerfort bloß die Milch trank, und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Loͤffelchen, schlug ihr ganz sanft auf den Kopf, und sagte ‘Ding, iß auch Brocken.’ Seine Mutter aber hoͤrte daß es mit jemand sprach, kam heran, und als sie die Unke erblickte, schlug sie sie todt. Und das Kind, das, seit die Unke mit ihm gegessen hatte, schoͤn und groß geworden war, magerte ab von dem Augenblicke an, und starb bald darauf.
II.
Ein Waisenkind saß an der Stadtmauer und spann, und sah eine Unke her kommen. Da breitete es ein blau seiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben, und auf das sie allein gehen, neben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/126>, abgerufen am 03.03.2025.
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