Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.Kinderwesen geschildert. Der Knabe kam an den Hof des Königs von England, um dort in ritterlicher Zucht aufzuwachsen. Der König führte ihn in das Gemach der Frauen, die ihn zu sehen wünschten, weil sie von seiner Schönheit und seinen tugendreichen Sitten gehört hatten. Als Wilhelm eintrat, sahen sie ihn mit Lust an, und grüßten ihn liebreich. Neben der Königin saß ihr Töchterlein, Amalie, ein blühendes Maienreis und eine Wonne der Augen, denn es war nicht anders, als der helle Sonnenglanz. Nie hat eine Mutter schönere Kinder geboren, als die beiden da waren. Der König faßte sein Töchterlein bei der Hand und sprach: "liebes Kind, du hast dir schon lange einen Spielkammeraden gewünscht, da hab ich einen gefunden. Komm, ich will dich mit ihm bekannt machen und ihm sagen, daß er artig mit dir umgeht. Er ist ein Kind, wie du, ihr könnt ohne Arg manchen Tag mit einander spielen. Sey du aber auch freundlich gegen ihn, wenn er bei dir ist." Nun war das Mädchen nicht älter als sieben Jahr und sprach, ohne sich dessen zu schämen: "Väterlein, das freut mich gar sehr, es soll mein Spielkammerad seyn, ich will gehen und mich zu ihm setzen. Sag ihm auch, daß er zu mir geht." "Ja, Wilhelm, komm her," sprach der König. Da ging das Mädchen zu ihm und sagte: "setz dich zu mir." Blöd und schüchtern, wie Knabensitte ist, wollte er nicht, ob ers gleich von Herzen gern gethan hätte. Es faßte ihn aber bei der Hand und nun saßen die beiden schönen Kinder beisammen, und wer nur da war, mußte die Augen auf sie richten. Was sie wollte, das that er; was er wollte, das that sie. Sie erzählten sich einander ihre Geschichten, Kinderwesen geschildert. Der Knabe kam an den Hof des Koͤnigs von England, um dort in ritterlicher Zucht aufzuwachsen. Der Koͤnig fuͤhrte ihn in das Gemach der Frauen, die ihn zu sehen wuͤnschten, weil sie von seiner Schoͤnheit und seinen tugendreichen Sitten gehoͤrt hatten. Als Wilhelm eintrat, sahen sie ihn mit Lust an, und gruͤßten ihn liebreich. Neben der Koͤnigin saß ihr Toͤchterlein, Amalie, ein bluͤhendes Maienreis und eine Wonne der Augen, denn es war nicht anders, als der helle Sonnenglanz. Nie hat eine Mutter schoͤnere Kinder geboren, als die beiden da waren. Der Koͤnig faßte sein Toͤchterlein bei der Hand und sprach: „liebes Kind, du hast dir schon lange einen Spielkammeraden gewuͤnscht, da hab ich einen gefunden. Komm, ich will dich mit ihm bekannt machen und ihm sagen, daß er artig mit dir umgeht. Er ist ein Kind, wie du, ihr koͤnnt ohne Arg manchen Tag mit einander spielen. Sey du aber auch freundlich gegen ihn, wenn er bei dir ist.“ Nun war das Maͤdchen nicht aͤlter als sieben Jahr und sprach, ohne sich dessen zu schaͤmen: „Vaͤterlein, das freut mich gar sehr, es soll mein Spielkammerad seyn, ich will gehen und mich zu ihm setzen. Sag ihm auch, daß er zu mir geht.“ „Ja, Wilhelm, komm her,“ sprach der Koͤnig. Da ging das Maͤdchen zu ihm und sagte: „setz dich zu mir.“ Bloͤd und schuͤchtern, wie Knabensitte ist, wollte er nicht, ob ers gleich von Herzen gern gethan haͤtte. Es faßte ihn aber bei der Hand und nun saßen die beiden schoͤnen Kinder beisammen, und wer nur da war, mußte die Augen auf sie richten. Was sie wollte, das that er; was er wollte, das that sie. Sie erzaͤhlten sich einander ihre Geschichten, <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0062" n="LVI"/> Kinderwesen geschildert. Der Knabe kam an den Hof des Koͤnigs von England, um dort in ritterlicher Zucht aufzuwachsen. Der Koͤnig fuͤhrte ihn in das Gemach der Frauen, die ihn zu sehen wuͤnschten, weil sie von seiner Schoͤnheit und seinen tugendreichen Sitten gehoͤrt hatten. Als Wilhelm eintrat, sahen sie ihn mit Lust an, und gruͤßten ihn liebreich. Neben der Koͤnigin saß ihr Toͤchterlein, Amalie, ein bluͤhendes Maienreis und eine Wonne der Augen, denn es war nicht anders, als der helle Sonnenglanz. Nie hat eine Mutter schoͤnere Kinder geboren, als die beiden da waren. Der Koͤnig faßte sein Toͤchterlein bei der Hand und sprach: „liebes Kind, du hast dir schon lange einen Spielkammeraden gewuͤnscht, da hab ich einen gefunden. Komm, ich will dich mit ihm bekannt machen und ihm sagen, daß er artig mit dir umgeht. Er ist ein Kind, wie du, ihr koͤnnt ohne Arg manchen Tag mit einander spielen. Sey du aber auch freundlich gegen ihn, wenn er bei dir ist.“ Nun war das Maͤdchen nicht aͤlter als sieben Jahr und sprach, ohne sich dessen zu schaͤmen: „Vaͤterlein, das freut mich gar sehr, es soll mein Spielkammerad seyn, ich will gehen und mich zu ihm setzen. Sag ihm auch, daß er zu mir geht.“ „Ja, Wilhelm, komm her,“ sprach der Koͤnig. Da ging das Maͤdchen zu ihm und sagte: „setz dich zu mir.“ Bloͤd und schuͤchtern, wie Knabensitte ist, wollte er nicht, ob ers gleich von Herzen gern gethan haͤtte. Es faßte ihn aber bei der Hand und nun saßen die beiden schoͤnen Kinder beisammen, und wer nur da war, mußte die Augen auf sie richten. Was sie wollte, das that er; was er wollte, das that sie. Sie erzaͤhlten sich einander ihre Geschichten, </p> </div> </front> </text> </TEI> [LVI/0062]
Kinderwesen geschildert. Der Knabe kam an den Hof des Koͤnigs von England, um dort in ritterlicher Zucht aufzuwachsen. Der Koͤnig fuͤhrte ihn in das Gemach der Frauen, die ihn zu sehen wuͤnschten, weil sie von seiner Schoͤnheit und seinen tugendreichen Sitten gehoͤrt hatten. Als Wilhelm eintrat, sahen sie ihn mit Lust an, und gruͤßten ihn liebreich. Neben der Koͤnigin saß ihr Toͤchterlein, Amalie, ein bluͤhendes Maienreis und eine Wonne der Augen, denn es war nicht anders, als der helle Sonnenglanz. Nie hat eine Mutter schoͤnere Kinder geboren, als die beiden da waren. Der Koͤnig faßte sein Toͤchterlein bei der Hand und sprach: „liebes Kind, du hast dir schon lange einen Spielkammeraden gewuͤnscht, da hab ich einen gefunden. Komm, ich will dich mit ihm bekannt machen und ihm sagen, daß er artig mit dir umgeht. Er ist ein Kind, wie du, ihr koͤnnt ohne Arg manchen Tag mit einander spielen. Sey du aber auch freundlich gegen ihn, wenn er bei dir ist.“ Nun war das Maͤdchen nicht aͤlter als sieben Jahr und sprach, ohne sich dessen zu schaͤmen: „Vaͤterlein, das freut mich gar sehr, es soll mein Spielkammerad seyn, ich will gehen und mich zu ihm setzen. Sag ihm auch, daß er zu mir geht.“ „Ja, Wilhelm, komm her,“ sprach der Koͤnig. Da ging das Maͤdchen zu ihm und sagte: „setz dich zu mir.“ Bloͤd und schuͤchtern, wie Knabensitte ist, wollte er nicht, ob ers gleich von Herzen gern gethan haͤtte. Es faßte ihn aber bei der Hand und nun saßen die beiden schoͤnen Kinder beisammen, und wer nur da war, mußte die Augen auf sie richten. Was sie wollte, das that er; was er wollte, das that sie. Sie erzaͤhlten sich einander ihre Geschichten,
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.
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