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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.

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Klein ist sie ja, leicht holen wir die kleine Frau.
Doch bringst du etwas, bringe uns recht viel und gut.
Mach auf die Thür, der Schwalbe mach die Thür auf;
nicht alte sind wir, sind ja junge Knaben noch*).

Ein Kinderfest in Spanien, das Laborde (Itiner. I. 57. 58.) beschreibt, zeigt nur die Vernichtung des Winters. Jn Barcelona nämlich, laufen die Knaben den Tag von Mittfasten in Haufen von dreißig oder vierzig durch alle Straßen, einige mit Sägen, andere mit Scheitern, andere mit Tüchern, in welche man ihnen Geschenke legt. Sie singen dabei in der Landessprache ein Lied, welches enthält, daß sie die allerälteste Frau in der ganzen Stadt suchen, um sie mitten durch den Leib entzwei zu sägen, zur Ehre der Mittfasten. Von Zeit zu Zeit stehen sie still, besonders vor den Läden, und verdoppeln ihren Gesang. Sie thun, als ob sie die Alte gefunden hätten, sogleich fassen einige die Säge an beiden Enden und nehmen die Stellung Sägender an. Einige schenken ihnen Geld, Brot, Eier und auch Holz, um damit die entzweigesägte Alte zu verbrennen. Aus Dankbarkeit heben sie noch einmal ihren Gesang an. Werden sie aber abgewiesen, oder wohl gar mit Wasser begossen, so antworten sie durch höhnisches Schreien. Es ist offenbar nichts anders, als das Austreiben des Todes oder Winters, welcher hier als eine alte Frau dargestellt und vom Feuer oder der Sonne verzehrt wird.


*) Eine freie aber glückliche Uebersetzung von Prätorius ist im Wunderhorn I. 161. (Bettelei der Vögel) mitgetheilt.
Klein ist sie ja, leicht holen wir die kleine Frau.
Doch bringst du etwas, bringe uns recht viel und gut.
Mach auf die Thuͤr, der Schwalbe mach die Thuͤr auf;
nicht alte sind wir, sind ja junge Knaben noch*).

Ein Kinderfest in Spanien, das Laborde (Itiner. I. 57. 58.) beschreibt, zeigt nur die Vernichtung des Winters. Jn Barcelona naͤmlich, laufen die Knaben den Tag von Mittfasten in Haufen von dreißig oder vierzig durch alle Straßen, einige mit Saͤgen, andere mit Scheitern, andere mit Tuͤchern, in welche man ihnen Geschenke legt. Sie singen dabei in der Landessprache ein Lied, welches enthaͤlt, daß sie die alleraͤlteste Frau in der ganzen Stadt suchen, um sie mitten durch den Leib entzwei zu saͤgen, zur Ehre der Mittfasten. Von Zeit zu Zeit stehen sie still, besonders vor den Laͤden, und verdoppeln ihren Gesang. Sie thun, als ob sie die Alte gefunden haͤtten, sogleich fassen einige die Saͤge an beiden Enden und nehmen die Stellung Saͤgender an. Einige schenken ihnen Geld, Brot, Eier und auch Holz, um damit die entzweigesaͤgte Alte zu verbrennen. Aus Dankbarkeit heben sie noch einmal ihren Gesang an. Werden sie aber abgewiesen, oder wohl gar mit Wasser begossen, so antworten sie durch hoͤhnisches Schreien. Es ist offenbar nichts anders, als das Austreiben des Todes oder Winters, welcher hier als eine alte Frau dargestellt und vom Feuer oder der Sonne verzehrt wird.


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[XXXIX/0045] Klein ist sie ja, leicht holen wir die kleine Frau. Doch bringst du etwas, bringe uns recht viel und gut. Mach auf die Thuͤr, der Schwalbe mach die Thuͤr auf; nicht alte sind wir, sind ja junge Knaben noch *). Ein Kinderfest in Spanien, das Laborde (Itiner. I. 57. 58.) beschreibt, zeigt nur die Vernichtung des Winters. Jn Barcelona naͤmlich, laufen die Knaben den Tag von Mittfasten in Haufen von dreißig oder vierzig durch alle Straßen, einige mit Saͤgen, andere mit Scheitern, andere mit Tuͤchern, in welche man ihnen Geschenke legt. Sie singen dabei in der Landessprache ein Lied, welches enthaͤlt, daß sie die alleraͤlteste Frau in der ganzen Stadt suchen, um sie mitten durch den Leib entzwei zu saͤgen, zur Ehre der Mittfasten. Von Zeit zu Zeit stehen sie still, besonders vor den Laͤden, und verdoppeln ihren Gesang. Sie thun, als ob sie die Alte gefunden haͤtten, sogleich fassen einige die Saͤge an beiden Enden und nehmen die Stellung Saͤgender an. Einige schenken ihnen Geld, Brot, Eier und auch Holz, um damit die entzweigesaͤgte Alte zu verbrennen. Aus Dankbarkeit heben sie noch einmal ihren Gesang an. Werden sie aber abgewiesen, oder wohl gar mit Wasser begossen, so antworten sie durch hoͤhnisches Schreien. Es ist offenbar nichts anders, als das Austreiben des Todes oder Winters, welcher hier als eine alte Frau dargestellt und vom Feuer oder der Sonne verzehrt wird. *) Eine freie aber gluͤckliche Uebersetzung von Praͤtorius ist im Wunderhorn I. 161. (Bettelei der Voͤgel) mitgetheilt.

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. XXXIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/45>, abgerufen am 24.11.2024.