Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.105.
Mährchen von der Unke.
I.
Ein Kind saß vor der Hausthüre auf der Erde und hatte sein Schüsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich und aß. Da kam eine Unke gekrochen und senkte ihr Köpfchen in die Schüssel und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder und so eine Zeit lang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah, daß die Unke immerfort blos die Milch trank und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Löffelchen, schlug ihr ein bischen auf den Kopf und sagte: "Ding, iß auch Brocken!" Das Kind war seit der Zeit schön und groß geworden, seine Mutter aber stand gerade hinter ihm, und sah die Unke, da lief sie herbei und schlug sie todt; von dem Augenblick an ward das Kind mager und ist endlich gestorben.
II.
Ein Waisen-Mädchen saß an der Stadtmauer und spann, sah eine Unke herkommen. Da breitete es ein blau seiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen, neben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines goldenes Krönchen getragen, legte es darauf und ging dann wieder fort. Da nahm das Mädchen die Krone auf, sie glitzerte und war von zartem Goldgespinst; nicht lange, so kam die Unke zum zweitenmal wieder, wie sie aber die Krone nicht mehr sah, kroch sie an die Wand und schlug vor 105.
Maͤhrchen von der Unke.
I.
Ein Kind saß vor der Hausthuͤre auf der Erde und hatte sein Schuͤsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich und aß. Da kam eine Unke gekrochen und senkte ihr Koͤpfchen in die Schuͤssel und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder und so eine Zeit lang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah, daß die Unke immerfort blos die Milch trank und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Loͤffelchen, schlug ihr ein bischen auf den Kopf und sagte: „Ding, iß auch Brocken!“ Das Kind war seit der Zeit schoͤn und groß geworden, seine Mutter aber stand gerade hinter ihm, und sah die Unke, da lief sie herbei und schlug sie todt; von dem Augenblick an ward das Kind mager und ist endlich gestorben.
II.
Ein Waisen-Maͤdchen saß an der Stadtmauer und spann, sah eine Unke herkommen. Da breitete es ein blau seiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen, neben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines goldenes Kroͤnchen getragen, legte es darauf und ging dann wieder fort. Da nahm das Maͤdchen die Krone auf, sie glitzerte und war von zartem Goldgespinst; nicht lange, so kam die Unke zum zweitenmal wieder, wie sie aber die Krone nicht mehr sah, kroch sie an die Wand und schlug vor <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0180" n="102"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">105.<lb/> Maͤhrchen von der Unke.</hi> </head><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">I.</hi> </hi> </head><lb/> <p>Ein Kind saß vor der Hausthuͤre auf der Erde und hatte sein Schuͤsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich und aß. Da kam eine Unke gekrochen und senkte ihr Koͤpfchen in die Schuͤssel und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder und so eine Zeit lang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah, daß die Unke immerfort blos die Milch trank und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Loͤffelchen, schlug ihr ein bischen auf den Kopf und sagte: „Ding, iß auch Brocken!“ Das Kind war seit der Zeit schoͤn und groß geworden, seine Mutter aber stand gerade hinter ihm, und sah die Unke, da lief sie herbei und schlug sie todt; von dem Augenblick an ward das Kind mager und ist endlich gestorben.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">II.</hi> </hi> </head><lb/> <p>Ein Waisen-Maͤdchen saß an der Stadtmauer und spann, sah eine Unke herkommen. Da breitete es ein blau seiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen, neben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines goldenes Kroͤnchen getragen, legte es darauf und ging dann wieder fort. Da nahm das Maͤdchen die Krone auf, sie glitzerte und war von zartem Goldgespinst; nicht lange, so kam die Unke zum zweitenmal wieder, wie sie aber die Krone nicht mehr sah, kroch sie an die Wand und schlug vor </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [102/0180]
105.
Maͤhrchen von der Unke.
I.
Ein Kind saß vor der Hausthuͤre auf der Erde und hatte sein Schuͤsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich und aß. Da kam eine Unke gekrochen und senkte ihr Koͤpfchen in die Schuͤssel und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder und so eine Zeit lang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber sah, daß die Unke immerfort blos die Milch trank und die Brocken liegen ließ, nahm es sein Loͤffelchen, schlug ihr ein bischen auf den Kopf und sagte: „Ding, iß auch Brocken!“ Das Kind war seit der Zeit schoͤn und groß geworden, seine Mutter aber stand gerade hinter ihm, und sah die Unke, da lief sie herbei und schlug sie todt; von dem Augenblick an ward das Kind mager und ist endlich gestorben.
II.
Ein Waisen-Maͤdchen saß an der Stadtmauer und spann, sah eine Unke herkommen. Da breitete es ein blau seiden Tuch, das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen, neben sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines goldenes Kroͤnchen getragen, legte es darauf und ging dann wieder fort. Da nahm das Maͤdchen die Krone auf, sie glitzerte und war von zartem Goldgespinst; nicht lange, so kam die Unke zum zweitenmal wieder, wie sie aber die Krone nicht mehr sah, kroch sie an die Wand und schlug vor
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.
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