"so weit hat's Keiner gebracht; aber es ist noch der dritte Bund übrig, und dachte, ich will dich schon berücken: "Heut Abend bring' ich die Jung- frau dir auf die Kammer und in deinen Arm, da sollt ihr beisammen sitzen, aber hüt' dich vor'm Einschlafen; ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren." Der Prinz dachte, das ist so schwer nicht, ich will wohl meine Augen nicht zu- thun; doch Vorsicht ist immer gut, und als die schöne Jungfrau Abends zu ihm geführt ward, hieß er alle seine Diener hereinkommen, und der Lange mußte sich um sie herumschlingen, und der Dicke sich vor die Thüre stellen, daß keine leben- dige Seele herein konnte. Da saßen sie und die schöne Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durch's Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Sie wachten auch alle mit einander bis elf Uhr, da ließ die Zauberin einen Schlummer auf ihre Au- gen fallen, den sie nicht abwehren konnten. Sie schliefen alle hart bis ein Viertel vor zwölf, und als sie erwachten, war die Prinzessin fort und von der Alten entrückt. Der Prinz und die Diener jammerten, aber der Horcher sprach: "seyd ein- mal still!" horchte und sagte: "sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier und klagt über ihr Schicksal. Da sprach der Lange: "ich will helfen" und huckte den mit den verbundenen
„ſo weit hat’s Keiner gebracht; aber es iſt noch der dritte Bund uͤbrig, und dachte, ich will dich ſchon beruͤcken: „Heut Abend bring’ ich die Jung- frau dir auf die Kammer und in deinen Arm, da ſollt ihr beiſammen ſitzen, aber huͤt’ dich vor’m Einſchlafen; ich komme Schlag zwoͤlf Uhr, und iſt ſie dann nicht mehr in deinen Armen, ſo haſt du verloren.“ Der Prinz dachte, das iſt ſo ſchwer nicht, ich will wohl meine Augen nicht zu- thun; doch Vorſicht iſt immer gut, und als die ſchoͤne Jungfrau Abends zu ihm gefuͤhrt ward, hieß er alle ſeine Diener hereinkommen, und der Lange mußte ſich um ſie herumſchlingen, und der Dicke ſich vor die Thuͤre ſtellen, daß keine leben- dige Seele herein konnte. Da ſaßen ſie und die ſchoͤne Jungfrau ſprach kein Wort, aber der Mond ſchien durch’s Fenſter auf ihr Angeſicht, daß er ihre wunderbare Schoͤnheit ſehen konnte. Sie wachten auch alle mit einander bis elf Uhr, da ließ die Zauberin einen Schlummer auf ihre Au- gen fallen, den ſie nicht abwehren konnten. Sie ſchliefen alle hart bis ein Viertel vor zwoͤlf, und als ſie erwachten, war die Prinzeſſin fort und von der Alten entruͤckt. Der Prinz und die Diener jammerten, aber der Horcher ſprach: „ſeyd ein- mal ſtill!“ horchte und ſagte: „ſie ſitzt in einem Felſen dreihundert Stunden von hier und klagt uͤber ihr Schickſal. Da ſprach der Lange: „ich will helfen“ und huckte den mit den verbundenen
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„ſo weit hat’s Keiner gebracht; aber es iſt noch
der dritte Bund uͤbrig, und dachte, ich will dich
ſchon beruͤcken: „Heut Abend bring’ ich die Jung-
frau dir auf die Kammer und in deinen Arm, da
ſollt ihr beiſammen ſitzen, aber huͤt’ dich vor’m
Einſchlafen; ich komme Schlag zwoͤlf Uhr, und
iſt ſie dann nicht mehr in deinen Armen, ſo haſt
du verloren.“ Der Prinz dachte, das iſt ſo
ſchwer nicht, ich will wohl meine Augen nicht zu-
thun; doch Vorſicht iſt immer gut, und als die
ſchoͤne Jungfrau Abends zu ihm gefuͤhrt ward,
hieß er alle ſeine Diener hereinkommen, und der
Lange mußte ſich um ſie herumſchlingen, und der
Dicke ſich vor die Thuͤre ſtellen, daß keine leben-
dige Seele herein konnte. Da ſaßen ſie und die
ſchoͤne Jungfrau ſprach kein Wort, aber der Mond
ſchien durch’s Fenſter auf ihr Angeſicht, daß er
ihre wunderbare Schoͤnheit ſehen konnte. Sie
wachten auch alle mit einander bis elf Uhr, da
ließ die Zauberin einen Schlummer auf ihre Au-
gen fallen, den ſie nicht abwehren konnten. Sie
ſchliefen alle hart bis ein Viertel vor zwoͤlf, und
als ſie erwachten, war die Prinzeſſin fort und von
der Alten entruͤckt. Der Prinz und die Diener
jammerten, aber der Horcher ſprach: „ſeyd ein-
mal ſtill!“ horchte und ſagte: „ſie ſitzt in einem
Felſen dreihundert Stunden von hier und klagt
uͤber ihr Schickſal. Da ſprach der Lange: „ich
will helfen“ und huckte den mit den verbundenen
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/270>, abgerufen am 23.12.2024.
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