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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

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und die darauf gegründete Lebensweise und Sitte auf die äußere Gestaltung Einfluß geübt hat.

Doch etwas hat das engere Deutschland voraus, es besitzt allein das Thiermärchen, sei es, daß es bei andern Völkern ursprünglich nicht vorhanden war oder nicht zur Entwicklung gelangte: nur den alten Griechen ist es nicht fremd gewesen; was bei den Wenden in der Lausitz davon vorkommt, mag von den benachbarten Deutschen übergegangen sein. Jn dem altindischen und tibetischen Epos, bei den Nordamerikanern, Finnen, Gälen, Persern, Slaven und Romanen werden häufig genug Thiere in die Schicksale der Menschen verflochten, oder gute und böse Götter üben in Thiersgestalt ihre Macht aus (als eins der schönsten Beispiele habe ich oben aus Mahabharata das Märchen von der Taube und dem Habicht angeführt), doch wird nicht das abgesonderte, von den Menschen unabhängige Leben der Thiere dargestellt, darin liegt aber der Grundgedanke, der höchst überraschend auch bei den Betschuanen zum Vorschein kommt; in dem Märchen eines Kosacken finde ich ihn so wenig als in den Thierfabeln des Mahabharata (Holzmann 1, 81. 2, 168), die nur eine sittliche Betrachtung geltend machen wollen.

Jn diesen Märchen wird den Thieren der geordnete Zustand eines staatlichen Lebens beigelegt. Ein König herrscht über sie und fordert unbedingten Gehorsam: es gilt ein herkömmliches Gesetz, dem sie sich unterwerfen müssen. Sie haben Anführer, vereinigen sich in Schaaren, die gegen einander ausziehen und sich bekriegen. Neben Treue und Redlichkeit erhebt sich Bosheit und List, bei deren Vertretung der Fuchs seine ausgezeichnete Begabung an den Tag legt. Rohe Gewalt hilft nicht immer, der kleine Zaunkönig weiß über den unbeholfenen Bären den Sieg zu erreichen. Durch die Sprache, die ihnen verliehen ist und sie höherer Gedanken theilhaftig

und die darauf gegründete Lebensweise und Sitte auf die äußere Gestaltung Einfluß geübt hat.

Doch etwas hat das engere Deutschland voraus, es besitzt allein das Thiermärchen, sei es, daß es bei andern Völkern ursprünglich nicht vorhanden war oder nicht zur Entwicklung gelangte: nur den alten Griechen ist es nicht fremd gewesen; was bei den Wenden in der Lausitz davon vorkommt, mag von den benachbarten Deutschen übergegangen sein. Jn dem altindischen und tibetischen Epos, bei den Nordamerikanern, Finnen, Gälen, Persern, Slaven und Romanen werden häufig genug Thiere in die Schicksale der Menschen verflochten, oder gute und böse Götter üben in Thiersgestalt ihre Macht aus (als eins der schönsten Beispiele habe ich oben aus Mahabharata das Märchen von der Taube und dem Habicht angeführt), doch wird nicht das abgesonderte, von den Menschen unabhängige Leben der Thiere dargestellt, darin liegt aber der Grundgedanke, der höchst überraschend auch bei den Betschuanen zum Vorschein kommt; in dem Märchen eines Kosacken finde ich ihn so wenig als in den Thierfabeln des Mahabharata (Holzmann 1, 81. 2, 168), die nur eine sittliche Betrachtung geltend machen wollen.

Jn diesen Märchen wird den Thieren der geordnete Zustand eines staatlichen Lebens beigelegt. Ein König herrscht über sie und fordert unbedingten Gehorsam: es gilt ein herkömmliches Gesetz, dem sie sich unterwerfen müssen. Sie haben Anführer, vereinigen sich in Schaaren, die gegen einander ausziehen und sich bekriegen. Neben Treue und Redlichkeit erhebt sich Bosheit und List, bei deren Vertretung der Fuchs seine ausgezeichnete Begabung an den Tag legt. Rohe Gewalt hilft nicht immer, der kleine Zaunkönig weiß über den unbeholfenen Bären den Sieg zu erreichen. Durch die Sprache, die ihnen verliehen ist und sie höherer Gedanken theilhaftig

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[LXXI/0077] und die darauf gegründete Lebensweise und Sitte auf die äußere Gestaltung Einfluß geübt hat. Doch etwas hat das engere Deutschland voraus, es besitzt allein das Thiermärchen, sei es, daß es bei andern Völkern ursprünglich nicht vorhanden war oder nicht zur Entwicklung gelangte: nur den alten Griechen ist es nicht fremd gewesen; was bei den Wenden in der Lausitz davon vorkommt, mag von den benachbarten Deutschen übergegangen sein. Jn dem altindischen und tibetischen Epos, bei den Nordamerikanern, Finnen, Gälen, Persern, Slaven und Romanen werden häufig genug Thiere in die Schicksale der Menschen verflochten, oder gute und böse Götter üben in Thiersgestalt ihre Macht aus (als eins der schönsten Beispiele habe ich oben aus Mahabharata das Märchen von der Taube und dem Habicht angeführt), doch wird nicht das abgesonderte, von den Menschen unabhängige Leben der Thiere dargestellt, darin liegt aber der Grundgedanke, der höchst überraschend auch bei den Betschuanen zum Vorschein kommt; in dem Märchen eines Kosacken finde ich ihn so wenig als in den Thierfabeln des Mahabharata (Holzmann 1, 81. 2, 168), die nur eine sittliche Betrachtung geltend machen wollen. Jn diesen Märchen wird den Thieren der geordnete Zustand eines staatlichen Lebens beigelegt. Ein König herrscht über sie und fordert unbedingten Gehorsam: es gilt ein herkömmliches Gesetz, dem sie sich unterwerfen müssen. Sie haben Anführer, vereinigen sich in Schaaren, die gegen einander ausziehen und sich bekriegen. Neben Treue und Redlichkeit erhebt sich Bosheit und List, bei deren Vertretung der Fuchs seine ausgezeichnete Begabung an den Tag legt. Rohe Gewalt hilft nicht immer, der kleine Zaunkönig weiß über den unbeholfenen Bären den Sieg zu erreichen. Durch die Sprache, die ihnen verliehen ist und sie höherer Gedanken theilhaftig

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. LXXI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/77>, abgerufen am 28.11.2024.