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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

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münchhausischen Lügen sind nur ein matter, geistlos behandelter Nachhall. Dichtungen dieser Art waren schon frühe vorhanden, der Modus florum aus dem zehnten Jahrhundert (Eberts Überlieferungen 1, 79) knüpft sie, wie ein deutsches Märchen (Bd 3, 201) an die Bekanntmachung eines Königs, wonach derjenige seine Tochter zur Frau haben soll, der am besten zu lügen weiß. Gewahrt wird dabei immer ein gewisser Schein des Möglichen, während die Märchen vom Schlaraffenland (Nr 158. Haupts Zeitschrift 2, 560) absichtlich das Unmögliche zusammen bringen: der Habicht schwimmt über den Rhein, die Fische schreien, der Blinde sieht einen Hasen laufen und der Stumme ruft die Lahmen herbei, der den Hasen greift. Die menschliche Einbildungskraft befriedigt hier das Verlangen das große, alle Schranken zerschneidende Messer einmal mit voller Freiheit zu handhaben.

Der Meisterdieb, der den gemeinen Diebstahl verachtet, der aber einer angeborenen Lust folgend mit kecker Gewandtheit Streiche ausführt, die einem andern unmöglich sind, der dem Vogel die Eier unter den Flügeln wegnimmt, ohne daß es dieser merkt, ein solcher macht auf eine gewisse Ehre Anspruch. Man gedenkt seiner nicht bloß ohne Unwillen, es gibt Märchen, die ausschließlich von solchen erzählen, die in ihrer Kunst den letzten Grad erreicht haben, und darin stimmen indische, deutsche, nordische und italienische Überlieferungen zusammen.

Endlich der Bruder Lustig oder der Spielhansel, der sich um nichts kümmert als um ein fröhliches Leben und den Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu beachten selten aufgelegt scheint. Da er aber von Natur nicht bösartig ist, und eine solche Stimmung sich ohne Humor nicht durchsetzen läßt, so geht ihm manches hin, was bei andern für unerlaubt gilt, wie Shakespear seinen Falstaff, der nur in diesem Wasser schwimmen kann, sogar liebenswürdig zu

münchhausischen Lügen sind nur ein matter, geistlos behandelter Nachhall. Dichtungen dieser Art waren schon frühe vorhanden, der Modus florum aus dem zehnten Jahrhundert (Eberts Überlieferungen 1, 79) knüpft sie, wie ein deutsches Märchen (Bd 3, 201) an die Bekanntmachung eines Königs, wonach derjenige seine Tochter zur Frau haben soll, der am besten zu lügen weiß. Gewahrt wird dabei immer ein gewisser Schein des Möglichen, während die Märchen vom Schlaraffenland (Nr 158. Haupts Zeitschrift 2, 560) absichtlich das Unmögliche zusammen bringen: der Habicht schwimmt über den Rhein, die Fische schreien, der Blinde sieht einen Hasen laufen und der Stumme ruft die Lahmen herbei, der den Hasen greift. Die menschliche Einbildungskraft befriedigt hier das Verlangen das große, alle Schranken zerschneidende Messer einmal mit voller Freiheit zu handhaben.

Der Meisterdieb, der den gemeinen Diebstahl verachtet, der aber einer angeborenen Lust folgend mit kecker Gewandtheit Streiche ausführt, die einem andern unmöglich sind, der dem Vogel die Eier unter den Flügeln wegnimmt, ohne daß es dieser merkt, ein solcher macht auf eine gewisse Ehre Anspruch. Man gedenkt seiner nicht bloß ohne Unwillen, es gibt Märchen, die ausschließlich von solchen erzählen, die in ihrer Kunst den letzten Grad erreicht haben, und darin stimmen indische, deutsche, nordische und italienische Überlieferungen zusammen.

Endlich der Bruder Lustig oder der Spielhansel, der sich um nichts kümmert als um ein fröhliches Leben und den Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu beachten selten aufgelegt scheint. Da er aber von Natur nicht bösartig ist, und eine solche Stimmung sich ohne Humor nicht durchsetzen läßt, so geht ihm manches hin, was bei andern für unerlaubt gilt, wie Shakespear seinen Falstaff, der nur in diesem Wasser schwimmen kann, sogar liebenswürdig zu

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[LXVI/0072] münchhausischen Lügen sind nur ein matter, geistlos behandelter Nachhall. Dichtungen dieser Art waren schon frühe vorhanden, der Modus florum aus dem zehnten Jahrhundert (Eberts Überlieferungen 1, 79) knüpft sie, wie ein deutsches Märchen (Bd 3, 201) an die Bekanntmachung eines Königs, wonach derjenige seine Tochter zur Frau haben soll, der am besten zu lügen weiß. Gewahrt wird dabei immer ein gewisser Schein des Möglichen, während die Märchen vom Schlaraffenland (Nr 158. Haupts Zeitschrift 2, 560) absichtlich das Unmögliche zusammen bringen: der Habicht schwimmt über den Rhein, die Fische schreien, der Blinde sieht einen Hasen laufen und der Stumme ruft die Lahmen herbei, der den Hasen greift. Die menschliche Einbildungskraft befriedigt hier das Verlangen das große, alle Schranken zerschneidende Messer einmal mit voller Freiheit zu handhaben. Der Meisterdieb, der den gemeinen Diebstahl verachtet, der aber einer angeborenen Lust folgend mit kecker Gewandtheit Streiche ausführt, die einem andern unmöglich sind, der dem Vogel die Eier unter den Flügeln wegnimmt, ohne daß es dieser merkt, ein solcher macht auf eine gewisse Ehre Anspruch. Man gedenkt seiner nicht bloß ohne Unwillen, es gibt Märchen, die ausschließlich von solchen erzählen, die in ihrer Kunst den letzten Grad erreicht haben, und darin stimmen indische, deutsche, nordische und italienische Überlieferungen zusammen. Endlich der Bruder Lustig oder der Spielhansel, der sich um nichts kümmert als um ein fröhliches Leben und den Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu beachten selten aufgelegt scheint. Da er aber von Natur nicht bösartig ist, und eine solche Stimmung sich ohne Humor nicht durchsetzen läßt, so geht ihm manches hin, was bei andern für unerlaubt gilt, wie Shakespear seinen Falstaff, der nur in diesem Wasser schwimmen kann, sogar liebenswürdig zu

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. LXVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/72>, abgerufen am 22.11.2024.