Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.Weitab von diesen nordamerikanischen Märchen, auf der östlichen Halbkugel und höher im Norden begegnen wir Überlieferungen der Finnen, die bei aller Verschiedenheit des Jnhalts in der Bildungsstufe Verwandtschaft mit jenen zeigen und, wenn auch durch einen losen epischen Faden zusammen gehalten, doch in einzelne Stücke sich leicht abtrennen lassen. Die mythische Grundlage tritt hier noch mächtiger hervor, während sich Tiefe und Wahrheit der Naturanschauung nicht geringer erweist. Kalevala, noch jetzt in dem Munde der Sänger fortlebend, ist zugleich eine der wunderbarsten Denkmäler der nordischen Vorzeit und wird an Ursprünglichkeit und innerm Gehalt nur von der Edda übertroffen; würdigen aber kann diese Poesie, die aus dem Zusammenhang mit der vorgeschichtlichen Zeit ihre Kraft zieht und ihre Bedeutung empfängt, nur wer gelernt hat sich in die Zustände zu versetzen, die sie schildert. Auch hier macht den Hauptinhalt eine Brautfahrt aus, indem drei Brüder um dieselbe mit wunderbarer Schönheit und den höchsten Gaben ausgestattete Jungfrau werben, die dem jüngsten zu Theil wird. An die Geschicke, die dabei walten, sind Überlieferungen geknüpft, die in märchenhafter Darstellung von der Entstehung der Erde und den frühsten Zuständen des menschlichen Zusammenlebens berichten. Den Brüdern wohnt schaffende Kraft bei, zumal dem ältesten: er bildet Jnseln, Buchte und Felsen, läßt Sonne und Mond erscheinen. Die jedesmalige Lage, in die sie gerathen, bestimmt sie hervor zu rufen was zum irdischen Dasein nöthig ist. Jhnen gegenüber steht eine böse Zauberin, die Krankheit und Seuchen entstehen läßt und Sonne und Mond verschließt, um der Erde das Licht zu entziehen. Wir vernehmen von der Erfindung der Harfe und des Gesangs, dessen Kraft so überwältigend ist, daß die ganze Natur in Aufruhr geräth: die Thränen, die dem Sänger dabei über die Wangen rollen, fallen ins Meer und bilden Edelsteine, die eine blaue Ente Weitab von diesen nordamerikanischen Märchen, auf der östlichen Halbkugel und höher im Norden begegnen wir Überlieferungen der Finnen, die bei aller Verschiedenheit des Jnhalts in der Bildungsstufe Verwandtschaft mit jenen zeigen und, wenn auch durch einen losen epischen Faden zusammen gehalten, doch in einzelne Stücke sich leicht abtrennen lassen. Die mythische Grundlage tritt hier noch mächtiger hervor, während sich Tiefe und Wahrheit der Naturanschauung nicht geringer erweist. Kalevala, noch jetzt in dem Munde der Sänger fortlebend, ist zugleich eine der wunderbarsten Denkmäler der nordischen Vorzeit und wird an Ursprünglichkeit und innerm Gehalt nur von der Edda übertroffen; würdigen aber kann diese Poesie, die aus dem Zusammenhang mit der vorgeschichtlichen Zeit ihre Kraft zieht und ihre Bedeutung empfängt, nur wer gelernt hat sich in die Zustände zu versetzen, die sie schildert. Auch hier macht den Hauptinhalt eine Brautfahrt aus, indem drei Brüder um dieselbe mit wunderbarer Schönheit und den höchsten Gaben ausgestattete Jungfrau werben, die dem jüngsten zu Theil wird. An die Geschicke, die dabei walten, sind Überlieferungen geknüpft, die in märchenhafter Darstellung von der Entstehung der Erde und den frühsten Zuständen des menschlichen Zusammenlebens berichten. Den Brüdern wohnt schaffende Kraft bei, zumal dem ältesten: er bildet Jnseln, Buchte und Felsen, läßt Sonne und Mond erscheinen. Die jedesmalige Lage, in die sie gerathen, bestimmt sie hervor zu rufen was zum irdischen Dasein nöthig ist. Jhnen gegenüber steht eine böse Zauberin, die Krankheit und Seuchen entstehen läßt und Sonne und Mond verschließt, um der Erde das Licht zu entziehen. Wir vernehmen von der Erfindung der Harfe und des Gesangs, dessen Kraft so überwältigend ist, daß die ganze Natur in Aufruhr geräth: die Thränen, die dem Sänger dabei über die Wangen rollen, fallen ins Meer und bilden Edelsteine, die eine blaue Ente <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0040" n="XXXIV"/> Weitab von diesen nordamerikanischen Märchen, auf der östlichen Halbkugel und höher im Norden begegnen wir Überlieferungen der <hi rendition="#g">Finnen</hi>, die bei aller Verschiedenheit des Jnhalts in der Bildungsstufe Verwandtschaft mit jenen zeigen und, wenn auch durch einen losen epischen Faden zusammen gehalten, doch in einzelne Stücke sich leicht abtrennen lassen. Die mythische Grundlage tritt hier noch mächtiger hervor, während sich Tiefe und Wahrheit der Naturanschauung nicht geringer erweist. Kalevala, noch jetzt in dem Munde der Sänger fortlebend, ist zugleich eine der wunderbarsten Denkmäler der nordischen Vorzeit und wird an Ursprünglichkeit und innerm Gehalt nur von der Edda übertroffen; würdigen aber kann diese Poesie, die aus dem Zusammenhang mit der vorgeschichtlichen Zeit ihre Kraft zieht und ihre Bedeutung empfängt, nur wer gelernt hat sich in die Zustände zu versetzen, die sie schildert. Auch hier macht den Hauptinhalt eine Brautfahrt aus, indem drei Brüder um dieselbe mit wunderbarer Schönheit und den höchsten Gaben ausgestattete Jungfrau werben, die dem jüngsten zu Theil wird. An die Geschicke, die dabei walten, sind Überlieferungen geknüpft, die in märchenhafter Darstellung von der Entstehung der Erde und den frühsten Zuständen des menschlichen Zusammenlebens berichten. Den Brüdern wohnt schaffende Kraft bei, zumal dem ältesten: er bildet Jnseln, Buchte und Felsen, läßt Sonne und Mond erscheinen. Die jedesmalige Lage, in die sie gerathen, bestimmt sie hervor zu rufen was zum irdischen Dasein nöthig ist. Jhnen gegenüber steht eine böse Zauberin, die Krankheit und Seuchen entstehen läßt und Sonne und Mond verschließt, um der Erde das Licht zu entziehen. Wir vernehmen von der Erfindung der Harfe und des Gesangs, dessen Kraft so überwältigend ist, daß die ganze Natur in Aufruhr geräth: die Thränen, die dem Sänger dabei über die Wangen rollen, fallen ins Meer und bilden Edelsteine, die eine blaue Ente </p> </div> </front> </text> </TEI> [XXXIV/0040]
Weitab von diesen nordamerikanischen Märchen, auf der östlichen Halbkugel und höher im Norden begegnen wir Überlieferungen der Finnen, die bei aller Verschiedenheit des Jnhalts in der Bildungsstufe Verwandtschaft mit jenen zeigen und, wenn auch durch einen losen epischen Faden zusammen gehalten, doch in einzelne Stücke sich leicht abtrennen lassen. Die mythische Grundlage tritt hier noch mächtiger hervor, während sich Tiefe und Wahrheit der Naturanschauung nicht geringer erweist. Kalevala, noch jetzt in dem Munde der Sänger fortlebend, ist zugleich eine der wunderbarsten Denkmäler der nordischen Vorzeit und wird an Ursprünglichkeit und innerm Gehalt nur von der Edda übertroffen; würdigen aber kann diese Poesie, die aus dem Zusammenhang mit der vorgeschichtlichen Zeit ihre Kraft zieht und ihre Bedeutung empfängt, nur wer gelernt hat sich in die Zustände zu versetzen, die sie schildert. Auch hier macht den Hauptinhalt eine Brautfahrt aus, indem drei Brüder um dieselbe mit wunderbarer Schönheit und den höchsten Gaben ausgestattete Jungfrau werben, die dem jüngsten zu Theil wird. An die Geschicke, die dabei walten, sind Überlieferungen geknüpft, die in märchenhafter Darstellung von der Entstehung der Erde und den frühsten Zuständen des menschlichen Zusammenlebens berichten. Den Brüdern wohnt schaffende Kraft bei, zumal dem ältesten: er bildet Jnseln, Buchte und Felsen, läßt Sonne und Mond erscheinen. Die jedesmalige Lage, in die sie gerathen, bestimmt sie hervor zu rufen was zum irdischen Dasein nöthig ist. Jhnen gegenüber steht eine böse Zauberin, die Krankheit und Seuchen entstehen läßt und Sonne und Mond verschließt, um der Erde das Licht zu entziehen. Wir vernehmen von der Erfindung der Harfe und des Gesangs, dessen Kraft so überwältigend ist, daß die ganze Natur in Aufruhr geräth: die Thränen, die dem Sänger dabei über die Wangen rollen, fallen ins Meer und bilden Edelsteine, die eine blaue Ente
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/40 |
Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. XXXIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/40>, abgerufen am 16.07.2024. |