Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite
35.
Der Schneider im Himmel.

Es trug sich zu, daß der liebe Gott an einem schönen Tag in dem himmlischen Garten sich ergehen wollte und alle Apostel und Heiligen mit nahm, also daß niemand mehr im Himmel blieb als der heilige Petrus. Der Herr hatte ihm befohlen während seiner Abwesenheit niemand einzulassen, Petrus stand also an der Pforte und hielt Wache. Nicht lange so klopfte jemand an. Petrus fragte wer da wäre und was er wollte. 'Jch bin ein armer ehrlicher Schneider,' antwortete eine feine Stimme, 'der um Einlaß bittet.' 'Ja, ehrlich,' sagte Petrus, 'wie der Dieb am Galgen, du hast lange Finger gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt. Du kommst nicht in den Himmel, der Herr hat mir verboten, so lange er draußen wäre, irgend jemand einzulassen.' 'Seid doch barmherzig,' rief der Schneider, 'kleine Flicklappen, die von selbst vom Tisch herab fallen, sind nicht gestolen und nicht der Rede werth. Seht ich hinke und habe von dem Weg daher Blasen an den Füßen, ich kann unmöglich wieder umkehren. Laßt mich nur hinein, ich will alle schlechte Arbeit thun. Jch will die Kinder tragen, die Windeln waschen, die Bänke, darauf sie gespielt haben, säubern und abwischen, und ihre zerrissenen Kleider flicken.' Der heilige Petrus ließ sich aus Mitleiden

35.
Der Schneider im Himmel.

Es trug sich zu, daß der liebe Gott an einem schönen Tag in dem himmlischen Garten sich ergehen wollte und alle Apostel und Heiligen mit nahm, also daß niemand mehr im Himmel blieb als der heilige Petrus. Der Herr hatte ihm befohlen während seiner Abwesenheit niemand einzulassen, Petrus stand also an der Pforte und hielt Wache. Nicht lange so klopfte jemand an. Petrus fragte wer da wäre und was er wollte. ‘Jch bin ein armer ehrlicher Schneider,’ antwortete eine feine Stimme, ‘der um Einlaß bittet.’ ‘Ja, ehrlich,’ sagte Petrus, ‘wie der Dieb am Galgen, du hast lange Finger gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt. Du kommst nicht in den Himmel, der Herr hat mir verboten, so lange er draußen wäre, irgend jemand einzulassen.’ ‘Seid doch barmherzig,’ rief der Schneider, ‘kleine Flicklappen, die von selbst vom Tisch herab fallen, sind nicht gestolen und nicht der Rede werth. Seht ich hinke und habe von dem Weg daher Blasen an den Füßen, ich kann unmöglich wieder umkehren. Laßt mich nur hinein, ich will alle schlechte Arbeit thun. Jch will die Kinder tragen, die Windeln waschen, die Bänke, darauf sie gespielt haben, säubern und abwischen, und ihre zerrissenen Kleider flicken.’ Der heilige Petrus ließ sich aus Mitleiden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0290" n="208"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">35.<lb/>
Der Schneider im Himmel.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">E</hi>s trug sich zu, daß der liebe Gott an einem schönen Tag in dem himmlischen Garten sich ergehen wollte und alle Apostel und Heiligen mit nahm, also daß niemand mehr im Himmel blieb als der heilige Petrus. Der Herr hatte ihm befohlen während seiner Abwesenheit niemand einzulassen, Petrus stand also an der Pforte und hielt Wache. Nicht lange so klopfte jemand an. Petrus fragte wer da wäre und was er wollte. &#x2018;Jch bin ein armer ehrlicher Schneider,&#x2019; antwortete eine feine Stimme, &#x2018;der um Einlaß bittet.&#x2019; &#x2018;Ja, ehrlich,&#x2019; sagte Petrus, &#x2018;wie der Dieb am Galgen, du hast lange Finger gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt. Du kommst nicht in den Himmel, der Herr hat mir verboten, so lange er draußen wäre, irgend jemand einzulassen.&#x2019; &#x2018;Seid doch barmherzig,&#x2019; rief der Schneider, &#x2018;kleine Flicklappen, die von selbst vom Tisch herab fallen, sind nicht gestolen und nicht der Rede werth. Seht ich hinke und habe von dem Weg daher Blasen an den Füßen, ich kann unmöglich wieder umkehren. Laßt mich nur hinein, ich will alle schlechte Arbeit thun. Jch will die Kinder tragen, die Windeln waschen, die Bänke, darauf sie gespielt haben, säubern und abwischen, und ihre zerrissenen Kleider flicken.&#x2019; Der heilige Petrus ließ sich aus Mitleiden
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[208/0290] 35. Der Schneider im Himmel. Es trug sich zu, daß der liebe Gott an einem schönen Tag in dem himmlischen Garten sich ergehen wollte und alle Apostel und Heiligen mit nahm, also daß niemand mehr im Himmel blieb als der heilige Petrus. Der Herr hatte ihm befohlen während seiner Abwesenheit niemand einzulassen, Petrus stand also an der Pforte und hielt Wache. Nicht lange so klopfte jemand an. Petrus fragte wer da wäre und was er wollte. ‘Jch bin ein armer ehrlicher Schneider,’ antwortete eine feine Stimme, ‘der um Einlaß bittet.’ ‘Ja, ehrlich,’ sagte Petrus, ‘wie der Dieb am Galgen, du hast lange Finger gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt. Du kommst nicht in den Himmel, der Herr hat mir verboten, so lange er draußen wäre, irgend jemand einzulassen.’ ‘Seid doch barmherzig,’ rief der Schneider, ‘kleine Flicklappen, die von selbst vom Tisch herab fallen, sind nicht gestolen und nicht der Rede werth. Seht ich hinke und habe von dem Weg daher Blasen an den Füßen, ich kann unmöglich wieder umkehren. Laßt mich nur hinein, ich will alle schlechte Arbeit thun. Jch will die Kinder tragen, die Windeln waschen, die Bänke, darauf sie gespielt haben, säubern und abwischen, und ihre zerrissenen Kleider flicken.’ Der heilige Petrus ließ sich aus Mitleiden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-03T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/290
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/290>, abgerufen am 18.11.2024.