Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand, und trug ihn in einen kleinen Stall. Er mochte schreien wie er wollte, es half ihm nichts; sie sperrte ihn mit einer Gitterthüre ein, und gieng dann zu Grethel, rüttelte sie wach, und rief 'willst du aufstehen, Faullenzerin, du sollst Wasser holen, und deinem Bruder etwas gutes kochen, der sitzt im Stall, und soll fett werden. Und wenn er fett ist, so will ich ihn essen.' Grethel fieng an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich, sie mußte thun was die böse Hexe verlangte.

Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Grethel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief 'Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle ob du bald fett bist.' Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und meinte es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich daß er gar nicht fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren, und Hänsel immer mager blieb, da übernahm sie die Ungeduld und sie wollte nicht länger warten. 'Heda, Grethel,' rief sie dem Mädchen zu, 'sei flink und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und sieden.' Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen mußte, und wie flossen ihm die Thränen über die Backen herunter! 'Lieber Gott, hilf uns doch,' rief sie aus, 'hätten uns nur die wilden Thiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben.' 'Spar nur dein Geblärre,' sagte die Alte, 'es hilft dir alles nichts.'

Früh Morgens mußte Grethel heraus, den Kessel mit

Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand, und trug ihn in einen kleinen Stall. Er mochte schreien wie er wollte, es half ihm nichts; sie sperrte ihn mit einer Gitterthüre ein, und gieng dann zu Grethel, rüttelte sie wach, und rief ‘willst du aufstehen, Faullenzerin, du sollst Wasser holen, und deinem Bruder etwas gutes kochen, der sitzt im Stall, und soll fett werden. Und wenn er fett ist, so will ich ihn essen.’ Grethel fieng an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich, sie mußte thun was die böse Hexe verlangte.

Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Grethel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief ‘Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle ob du bald fett bist.’ Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und meinte es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich daß er gar nicht fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren, und Hänsel immer mager blieb, da übernahm sie die Ungeduld und sie wollte nicht länger warten. ‘Heda, Grethel,’ rief sie dem Mädchen zu, ‘sei flink und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und sieden.’ Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen mußte, und wie flossen ihm die Thränen über die Backen herunter! ‘Lieber Gott, hilf uns doch,’ rief sie aus, ‘hätten uns nur die wilden Thiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben.’ ‘Spar nur dein Geblärre,’ sagte die Alte, ‘es hilft dir alles nichts.’

Früh Morgens mußte Grethel heraus, den Kessel mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0136" n="98"/>
Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand, und trug ihn in einen kleinen Stall. Er mochte schreien wie er wollte, es half ihm nichts; sie sperrte ihn mit einer Gitterthüre ein, und gieng dann zu Grethel, rüttelte sie wach, und rief &#x2018;willst du aufstehen, Faullenzerin, du sollst Wasser holen, und deinem Bruder etwas gutes kochen, der sitzt im Stall, und soll fett werden. Und wenn er fett ist, so will ich ihn essen.&#x2019; Grethel fieng an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich, sie mußte thun was die böse Hexe verlangte.</p><lb/>
        <p>Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Grethel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief &#x2018;Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle ob du bald fett bist.&#x2019; Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und meinte es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich daß er gar nicht fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren, und Hänsel immer mager blieb, da übernahm sie die Ungeduld und sie wollte nicht länger warten. &#x2018;Heda, Grethel,&#x2019; rief sie dem Mädchen zu, &#x2018;sei flink und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und sieden.&#x2019; Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen mußte, und wie flossen ihm die Thränen über die Backen herunter! &#x2018;Lieber Gott, hilf uns doch,&#x2019; rief sie aus, &#x2018;hätten uns nur die wilden Thiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben.&#x2019; &#x2018;Spar nur dein Geblärre,&#x2019; sagte die Alte, &#x2018;es hilft dir alles nichts.&#x2019;</p><lb/>
        <p>Früh Morgens mußte Grethel heraus, den Kessel mit
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0136] Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand, und trug ihn in einen kleinen Stall. Er mochte schreien wie er wollte, es half ihm nichts; sie sperrte ihn mit einer Gitterthüre ein, und gieng dann zu Grethel, rüttelte sie wach, und rief ‘willst du aufstehen, Faullenzerin, du sollst Wasser holen, und deinem Bruder etwas gutes kochen, der sitzt im Stall, und soll fett werden. Und wenn er fett ist, so will ich ihn essen.’ Grethel fieng an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich, sie mußte thun was die böse Hexe verlangte. Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Grethel bekam nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief ‘Hänsel, streck deine Finger heraus, damit ich fühle ob du bald fett bist.’ Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und meinte es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich daß er gar nicht fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren, und Hänsel immer mager blieb, da übernahm sie die Ungeduld und sie wollte nicht länger warten. ‘Heda, Grethel,’ rief sie dem Mädchen zu, ‘sei flink und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn schlachten und sieden.’ Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es das Wasser tragen mußte, und wie flossen ihm die Thränen über die Backen herunter! ‘Lieber Gott, hilf uns doch,’ rief sie aus, ‘hätten uns nur die wilden Thiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben.’ ‘Spar nur dein Geblärre,’ sagte die Alte, ‘es hilft dir alles nichts.’ Früh Morgens mußte Grethel heraus, den Kessel mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-01T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/136
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/136>, abgerufen am 24.11.2024.