Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich 'sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.' Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Dann band es das Thierchen, und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange lange gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es 'hier können wir bleiben und wohnen.' Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnügt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.

Das dauerte nur eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger, und das Rehlein hörte es, und wäre gar zu gerne dabei gewesen. 'Ach,' sprach es zum Schwesterlein, 'laß mich hinaus in die Jagd, ich kanns nicht länger mehr aushalten,' und bat so lange, bis es

Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich ‘sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.’ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Dann band es das Thierchen, und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange lange gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es ‘hier können wir bleiben und wohnen.’ Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnügt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.

Das dauerte nur eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger, und das Rehlein hörte es, und wäre gar zu gerne dabei gewesen. ‘Ach,’ sprach es zum Schwesterlein, ‘laß mich hinaus in die Jagd, ich kanns nicht länger mehr aushalten,’ und bat so lange, bis es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0105" n="67"/>
        <p> Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich &#x2018;sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.&#x2019; Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Dann band es das Thierchen, und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange lange gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es &#x2018;hier können wir bleiben und wohnen.&#x2019; Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnügt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.</p><lb/>
        <p>Das dauerte nur eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger, und das Rehlein hörte es, und wäre gar zu gerne dabei gewesen. &#x2018;Ach,&#x2019; sprach es zum Schwesterlein, &#x2018;laß mich hinaus in die Jagd, ich kanns nicht länger mehr aushalten,&#x2019; und bat so lange, bis es
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0105] Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch, und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich ‘sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.’ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab, und that es dem Rehchen um den Hals, und rupfte Binsen, und flocht ein weiches Seil daraus. Dann band es das Thierchen, und führte es weiter, und gieng immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange lange gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es ‘hier können wir bleiben und wohnen.’ Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen gieng es aus, und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, das fraß es ihm aus der Hand, und war vergnügt, und spielte vor ihm herum. Abends wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen. Das dauerte nur eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren, da trug es sich zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte darin das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger, und das Rehlein hörte es, und wäre gar zu gerne dabei gewesen. ‘Ach,’ sprach es zum Schwesterlein, ‘laß mich hinaus in die Jagd, ich kanns nicht länger mehr aushalten,’ und bat so lange, bis es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-01T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/105
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1843/105>, abgerufen am 22.11.2024.