Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
4.
Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.

Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheidt, und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie 'mit dem wird der Vater noch seine Last haben!' Wenn nun etwas zu thun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten: hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg gieng dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl 'ach, Vater, es gruselt mir!' denn er fürchtete sich. Oder, wenn Abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal 'ach, es gruselt mir!' Der jüngste saß in einer Ecke, und hörte das mit an, und konnte nicht begreifen was es heißen sollte. 'Jmmer sagen sie es gruselt mir! es gruselt mir! mir gruselts nicht: das wird wohl eine Kunst seyn, von der ich auch nichts verstehe.'

Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach 'hör du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, und mußt auch etwas lernen, womit du dein Brod verdienst. Siehst du, wie

4.
Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.

Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheidt, und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie ‘mit dem wird der Vater noch seine Last haben!’ Wenn nun etwas zu thun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten: hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg gieng dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl ‘ach, Vater, es gruselt mir!’ denn er fürchtete sich. Oder, wenn Abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal ‘ach, es gruselt mir!’ Der jüngste saß in einer Ecke, und hörte das mit an, und konnte nicht begreifen was es heißen sollte. ‘Jmmer sagen sie es gruselt mir! es gruselt mir! mir gruselts nicht: das wird wohl eine Kunst seyn, von der ich auch nichts verstehe.’

Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach ‘hör du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, und mußt auch etwas lernen, womit du dein Brod verdienst. Siehst du, wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0067" n="18"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">4.<lb/>
Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">E</hi>in Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheidt, und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie &#x2018;mit dem wird der Vater noch seine Last haben!&#x2019; Wenn nun etwas zu thun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten: hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg gieng dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl &#x2018;ach, Vater, es gruselt mir!&#x2019; denn er fürchtete sich. Oder, wenn Abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal &#x2018;ach, es gruselt mir!&#x2019; Der jüngste saß in einer Ecke, und hörte das mit an, und konnte nicht begreifen was es heißen sollte. &#x2018;Jmmer sagen sie es gruselt mir! es gruselt mir! mir gruselts nicht: das wird wohl eine Kunst seyn, von der ich auch nichts verstehe.&#x2019;</p><lb/>
        <p>Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach &#x2018;hör du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, und mußt auch etwas lernen, womit du dein Brod verdienst. Siehst du, wie
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0067] 4. Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen. Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheidt, und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie ‘mit dem wird der Vater noch seine Last haben!’ Wenn nun etwas zu thun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten: hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg gieng dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl ‘ach, Vater, es gruselt mir!’ denn er fürchtete sich. Oder, wenn Abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal ‘ach, es gruselt mir!’ Der jüngste saß in einer Ecke, und hörte das mit an, und konnte nicht begreifen was es heißen sollte. ‘Jmmer sagen sie es gruselt mir! es gruselt mir! mir gruselts nicht: das wird wohl eine Kunst seyn, von der ich auch nichts verstehe.’ Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach ‘hör du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, und mußt auch etwas lernen, womit du dein Brod verdienst. Siehst du, wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-07-24T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/67
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/67>, abgerufen am 18.11.2024.