Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

so war es doch so schön und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermählte.

Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria, und sprach 'willst du nun die Wahrheit sagen, und gestehen daß du die verbotene Thür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mnnd öffnen, und dir die Sprache wieder geben: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.' Da war der Königin verliehen zu antworten, aber sie sprach 'nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet,' und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme, und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin, und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der König aber hatte sie zu lieb als daß ers glauben wollte.

Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht auch wieder die Jungfrau Maria vor sie, und sprach 'willst du nun gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben, und deinen Mund lösen: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.' Da sprach die Königin wiederum 'nein, ich habe die verbotene Thüre nicht geöffnet,' und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen

so war es doch so schön und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermählte.

Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria, und sprach ‘willst du nun die Wahrheit sagen, und gestehen daß du die verbotene Thür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mnnd öffnen, und dir die Sprache wieder geben: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.’ Da war der Königin verliehen zu antworten, aber sie sprach ‘nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet,’ und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme, und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin, und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der König aber hatte sie zu lieb als daß ers glauben wollte.

Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht auch wieder die Jungfrau Maria vor sie, und sprach ‘willst du nun gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben, und deinen Mund lösen: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.’ Da sprach die Königin wiederum ‘nein, ich habe die verbotene Thüre nicht geöffnet,’ und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0064" n="15"/>
so war es doch so schön und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermählte.</p><lb/>
        <p>Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria, und sprach &#x2018;willst du nun die Wahrheit sagen, und gestehen daß du die verbotene Thür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mnnd öffnen, und dir die Sprache wieder geben: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.&#x2019; Da war der Königin verliehen zu antworten, aber sie sprach &#x2018;nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet,&#x2019; und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme, und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin, und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der König aber hatte sie zu lieb als daß ers glauben wollte.</p><lb/>
        <p>Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht auch wieder die Jungfrau Maria vor sie, und sprach &#x2018;willst du nun gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben, und deinen Mund lösen: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.&#x2019; Da sprach die Königin wiederum &#x2018;nein, ich habe die verbotene Thüre nicht geöffnet,&#x2019; und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0064] so war es doch so schön und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermählte. Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria, und sprach ‘willst du nun die Wahrheit sagen, und gestehen daß du die verbotene Thür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mnnd öffnen, und dir die Sprache wieder geben: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.’ Da war der Königin verliehen zu antworten, aber sie sprach ‘nein, ich habe die verbotene Thür nicht geöffnet,’ und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus dem Arme, und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, gieng ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin, und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles, und konnte nichts dagegen sagen, der König aber hatte sie zu lieb als daß ers glauben wollte. Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn, da trat in der Nacht auch wieder die Jungfrau Maria vor sie, und sprach ‘willst du nun gestehen daß du die verbotene Thüre geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben, und deinen Mund lösen: verharrst du aber in der Sünde, und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.’ Da sprach die Königin wiederum ‘nein, ich habe die verbotene Thüre nicht geöffnet,’ und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-07-24T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/64
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/64>, abgerufen am 23.11.2024.