Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
20.
Das tapfere Schneiderlein.

An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief 'gut Mus feil! gut Mus feil!' Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief 'hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.' Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich 'das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.' Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. 'Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,' rief das Schneiderlein, und soll mir Kraft und Stärke geben,' holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib, und strich das Mus darüber. 'Das wird nicht bitter schmecken,' sprach er, 'aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.' Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und

20.
Das tapfere Schneiderlein.

An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief ‘gut Mus feil! gut Mus feil!’ Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief ‘hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.’ Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich ‘das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.’ Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. ‘Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,’ rief das Schneiderlein, und soll mir Kraft und Stärke geben,’ holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib, und strich das Mus darüber. ‘Das wird nicht bitter schmecken,’ sprach er, ‘aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.’ Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0174" n="125"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">20.<lb/>
Das tapfere Schneiderlein.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">A</hi>n einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief &#x2018;gut Mus feil! gut Mus feil!&#x2019; Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief &#x2018;hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.&#x2019; Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich &#x2018;das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.&#x2019; Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. &#x2018;Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,&#x2019; rief das Schneiderlein, und soll mir Kraft und Stärke geben,&#x2019; holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib, und strich das Mus darüber. &#x2018;Das wird nicht bitter schmecken,&#x2019; sprach er, &#x2018;aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.&#x2019; Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0174] 20. Das tapfere Schneiderlein. An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge, und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief ‘gut Mus feil! gut Mus feil!’ Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief ‘hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Waare los.’ Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und mußte die Töpfe sämmtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase dran, und sagte endlich ‘das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Loth ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, kommt es mir nicht darauf an.’ Die Frau, welche gehofft hatte einen guten Absatz zu finden, gab ihm was er verlangte, gieng aber ganz ärgerlich und brummig fort. ‘Nun das Mus soll mir Gott gesegnen,’ rief das Schneiderlein, und soll mir Kraft und Stärke geben,’ holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich ein Stück über den ganzen Laib, und strich das Mus darüber. ‘Das wird nicht bitter schmecken,’ sprach er, ‘aber erst will ich den Wams fertig machen, eh ich anbeiße.’ Er legte das Brot neben sich, nähte weiter, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-07-24T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/174
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/174>, abgerufen am 18.11.2024.